Der reiche Mann und der arme Lazarus

Die nachfolgende Predigt hielt der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Prof. Dr. theol. Heinrich Bedford-Strohm, beim Ritterschlagsgottesdienst am 17. Juni 2017 in Wittenberg. Wir danken für die Veröffentlichungserlaubnis.
 
„Der reiche Mann und der arme Lazarus“ (Lk 16,19-31). Bei diesem Gleichnis, das Jesus erzählt, geht es ums Ganze. Es geht um den Grundhorizont unseres Lebens. Es geht um unser Leben vor Gott. Es geht ums Seelenheil.
 
Dieses Gleichnis ist schon an sich eine Herausforderung. Ganz besonders aber an diesem Ort - in der Schlosskirche zu Wittenberg. Dem Ort der Reformation. Ganz besonders zu diesem Anlass: dem Ritterschlag des Johanniterordens.
 
Hinter Ihnen, die Sie heute zu Rechtsrittern werden, liegt eine längere Zeit der Prüfung. Sie haben in Ihrem Herzen die Frage bewegt, ob Sie bereit sind, noch verbindlicher als bisher Ihren evangelischen Glauben im Gehorsam gegen den Orden zu leben. Dieser Gehorsam schließt ganz bewusst die Tat mit ein, vor allem die Not des Nächsten. Von ihr wollen Sie sich rufen lassen.
 
Insofern passt das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus, das der Predigttext für morgen ist, aufs Allerbeste. In seinem herausfordernden Charakter bietet es die richtige Grundlage, um über Sinn und Ziel der Reformation wie auch den Ritterschlag nachzudenken. Wie kann die zentrale Botschaft der Reformation, die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade zum Leuchten gebracht werden? Wo finden sich in diesem Gleichnis Ziel und Kern des evangelischen Glaubens?
 
Es ist einfach, aus dieser Geschichte ein Exempel des erhobenen Zeigefingers zu statuieren. Es zu einer Art moralistischem Manifest zu machen. Was hier erzählt wird, kann als moralische Keule verstanden werden, oder besser gesagt: missverstanden werden.
 
Zwei Figuren treten auf. Sie sind klar profiliert. Der reiche Mann und der arme Lazarus. Prototypen, könnte man fast sagen. Was mit ihnen geschieht, jagt zunächst einmal vor allem Angst ein. Jedenfalls dann, wenn man sich selbst nicht der Gruppe der Bettler zurechnen würde. Und Bettler ist hier heute niemand. Soll ich sagen: „leider niemand“? Oder soll ich sagen „glücklicherweise niemand“? Mit dieser Frage sind wir mitten drin im Gleichnis. Denn man wird sie im Lichte des Gleichnisses ja offensichtlich sehr unterschiedlich beantworten müssen, je nachdem, ob wir das Hier und Jetzt in den Blick nehmen oder das, was jenseits der Zeiten liegt und was wir mit Bildern wie dem Himmel, der Hölle oder auch der Vorstellung vom Fegefeuer zu beschreiben pflegen.
 
Schauen wir uns das Bild, das die Geschichte malt, einmal genauer an. Das Bildmaterial ist unglaublich stark. Der reiche Mann ist kostbar gekleidet. Edle Stoffe, schöne Farben. Die Farben der Könige. Purpur konnten sich nur die Reichsten leisten. Ein üppig gedeckter Tisch. Vielen Malern ist angesichts dieser Vorlage die Fantasie durchgegangen. Riesige Tische haben sie gemalt, die sich unter ihrer Last schier biegen. Früchte in Hülle und Fülle, Wild, Fische, Hummer.
 
Sie lassen uns einen fast übersehen: Oft ganz am äußersten Rand auf einer Treppe gemalt, ein Bettler. Der „arme Lazarus“ aus dem Gleichnis. Einerseits mittendrin, Teil des Bildes und des Geschehens. Gleichzeitig jedoch ganz am Rand. Wie im richtigen Leben.
 
So wie Jesus die Szene im Gleichnis beschreibt, weckt sie beunruhigende Fragen: Wieviel muss man verdrängen können, um diesen Menschen in seinem Elend nicht wahrzunehmen? In Lumpen, abgemagert bis auf die Knochen, elend und krank. Voller Geschwüre. Vielleicht bringen die uns zum Wegsehen. Denn wer kann Geschwüre und eiternde Wunden ertragen? Noch viel mehr, da die Straßenköter daran Gefallen finden. Die Haustür wird hier zur sicheren Grenze. Wer sie öffnet, wird mit etwas konfrontiert, das eigentlich kaum zu ertragen ist. Das ist selbst dann eine Herausforderung, wenn man sich wie die Johanniter dem Dienst an den Armen, Schwachen und Kranken verschrieben hat. Und weiß, dass man selbst daran arbeiten will, das Leid geringer und das Leiden erträglicher zu machen. Ja, auch dann ist es nachvollziehbar, wenn jemand in dieser Situation die Augen abwendet, die Luft anhält und so tut als überhörte er das wimmernde Rufen.
 
Dann ein Szenenwechsel: Beide Männer sterben. Und nun wird geschildert, was mit ihnen geschieht. Der reiche Mann landet in der Hölle. Der andere, der „arme Lazarus“, erlebt etwas völlig anderes. Wie in „Abrahams Schoß“ fühlt er sich. Endlich gut aufgehoben, angenommen, geborgen. Der große Ahnvater Abraham zieht ihn in seine Nähe. Ihn, den bisher die Menschen ignoriert haben und der seinen Platz bei den Hunden hatte: nun kommt er zu allerhöchsten Ehren. Sowas wie das Paradies. Wie sonst könnte man das beschreiben?
 
Die Rollen haben sich gründlich vertauscht. Der Reiche wird zum armen Hund, der von ferne die Freuden mit ansehen muss. Der Arme wird zum reich Beschenkten. So ist es, könnte man also sagen. Irgendwann kommt es zu einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Der Reiche hat sein gutes Leben bereits gehabt. Der Arme bekommt nun das, was ihm an irdischem Glück vorenthalten worden war, nach diesem Leben. Gott selbst schafft den gerechten Ausgleich.
 
Das wären schlechte Aussichten für uns. Denn wir alle, die wir hier sitzen und in diesem Land leben, sind unermesslich reich nach den Maßstäben des armen Lazarus in der Geschichte. Selbst was für uns ganz normal erscheint, ist im weltweiten Maßstab ein großer Reichtum. Fließend kaltes und vor allem auch warmes Wasser, sauberes Wasser überhaupt. Eine ordentliche medizinische Versorgung. Bildung, die über weite Strecken kostenlos ist. Essen in Hülle und Fülle, dazu in guter Qualität. Anziehsachen in allen Varianten und Farben. Und man könnte fortfahren: Krankenversicherung, Auto, die zweite und dritte Hose. Vielleicht das kostbare Familiensilber, die Bilder an der Wand und vielleicht auch eine schöne Perlenkette.
 
Ich glaube nicht, dass das Gleichnis uns im Hinblick auf all diese Dinge ein schlechtes Gewissen machen will. Es geht nicht darum, dass Wohlstand in sich schlecht ist. Hier geht es auch nicht einmal - wie in anderen Gleichnissen Jesu – um die Gefahren des Reichtums: dass wir unser Herz an den materiellen Wohlstand hängen, dass wir das Geld, den Mammon zu unserem Gott machen anstatt unser Herz ganz auf Gott auszurichten. Darum geht es hier gar nicht. Sondern es geht schlicht und einfach um Empathie! Es geht darum, den anderen zu sehen. Den anderen in seiner Not zu sehen. Sich von der Not des anderen anrühren zu lassen.
 
Wenn es uns gut geht, können wir uns darüber ja nur freuen. Ja, wir dürfen Gott dafür danken! Das Problem ist nicht, dass es uns gut geht. Sondern das Problem ist, dass es anderen schlecht geht.
 
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses Gebot kennt in unserer christlichen Kultur auch heute noch fast jeder. Und vielleicht wissen wir auch, dass Jesus es untrennbar verbindet mit der Liebe zu Gott: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Eigentlich ist es völlig klar, was Jesus uns für unser Leben mit auf den Weg gegeben hat. Und doch vergessen wir es so leicht.
 
Der Teil des Gleichnisses, der mich am meisten trifft, ist deswegen das Ende. Der reiche Mann sieht, dass er aus dem Ort der Pein nicht mehr herauskommt und will nun alles tun, damit seine Verwandten nicht in eine ähnliche Situation geraten. Er bittet Abraham, in dessen Schoß er den armen Lazarus jetzt sieht, einen Boten in seines Vaters Haus zu schicken und sagt: „ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.“ Abraham aber sagt: „Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.“ Der reiche Mann lässt nicht locker: „Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.“ Aber auch damit blitzt er ab, diesmal endgültig: Hören sie Mose und die Propheten nicht, sagt Abraham, „so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“
 
Einen eindringlicheren Aufruf, die Gebote, die Gott uns gegeben hat, ernst zu nehmen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Niemand soll sagen, er habe es nicht gewusst, wenn wir dereinst Rechenschaft abzulegen haben. Es ist nicht egal, wie wir leben. Es gerät nicht in Vergessenheit, ob wir nur unser eigenes Glück sehen oder ob wir unser Herz und unsere Sinne auch für den anderen öffnen. Ob wir ihn sehen. Es ist aufgeschrieben im himmlischen Lebensbuch Gottes, wie der Johanniterorden dem „Herrn Kranken“ dient. In den Ordenswerken und durch persönliches Engagement. Durch finanziellen Einsatz und indem sich der Einzelne rufen lässt, wo die Hilft am nötigsten ist. Bei Rettungseinsätzen, in der Nothilfe, als Sanitäter, durch Besuche bei alten Menschen.
 
Ob das alles geschieht oder nicht geschieht, ist nicht egal. Es ist nicht egal, ob Lazarus heute vor den Türen der Häuser des Überflusses ausgesperrt wird oder ob er gesehen wird. Man könnte es schon mit der Angst bekommen, wenn man auf das Schicksal des reichen Mannes in unserem Gleichnis schaut. So wie Martin Luther vor 500 Jahren, der verzweifelt versuchte, sein moralisches Punktekonto vor Gott so zu erhöhen, dass er wie Lazarus auf Abrahams Schoß hoffen durfte. Bis er eine wunderbare Entdeckung machte: Gottes Liebe ist viel größer als er sich je hätte vorstellen können. Christus ist tatsächlich der Weltenrichter, der nichts von dem vergisst, was wir schuldig bleiben an den Geringsten unserer Brüder und Schwestern. Aber seine Liebe ist so groß, dass er die Konsequenzen, die Strafe dafür, auf sich selbst nimmt und uns in die Freiheit der Kinder Gottes entlässt. So dass wir fortan aus der Freiheit eines Christenmenschen leben dürfen und den Lazarus in unser Haus lassen, weil die Liebe uns dazu treibt. „Sieh, so fließ aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies williges fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“ Schöner und prägnanter als Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ kann man es nicht zum Ausdruck bringen. Nicht die Angst vor der Hölle ist die Triebkraft für unser Handeln, sondern die Dankbarkeit für das von Gott erfahrene Gute.
 
Wo ich die Johanniter erlebt habe, habe ich das immer als fast so etwas wie ihr Markenzeichen empfunden: das Handeln für andere aus dem Bewusstsein des eigenen Gesegnetseins. Und wenn wir Ihnen, die Sie heute zu Rechtsrittern des Johanniterordens werden, nun den Segen Gottes mit auf den Weg geben, dann sollen Sie dadurch anderen zum Segen werden.
 
Wir alle, ob Johanniter oder nicht, sind eine Gemeinde der Gesegneten. Wir wollen nicht sorglos und achtlos leben. Wir wollen jetzt auf Mose und die Propheten hören. Dass Gott uns die Kraft dazu gibt, darauf dürfen wir fest vertrauen.