28.05.2021 | Landesgeschäftsstelle Sachsen

Frühförderung in Leipzig: Zwischen Traumstart und Fehlstart

Das sind die Extreme in einem Kinderleben. Für die allermeisten geht es irgendwo dazwischen los. Und für die, die weniger Glück gehabt haben, gibt es in der Leipziger Stöckelstraße umfangreiche Hilfen.

Tür an Tür mit der Kita HOCHhinaus und der Wohngruppe für die Kleinsten, Mogli, arbeiten eine Psychologin, Pädagoginnen, Heilpädagoginnen, Ergotherapeutinnen und Logopädinnen in der Frühförderstelle JoSchua. Sie kooperieren intensiv „hausintern“ sind aber auch für alle anderen da. Beim ersten Beratungsgespräch sogar ohne ärztliches Rezept. Dabei analysieren die Fachleute, ob das Kind sich altersgerecht entwickelt hat. Gibt es kleinere oder größere Abweichungen, machen die acht Mitarbeiterinnen Vorschläge und bieten Hilfen an. Manchmal sind es nur kleine Korrekturen, weil das Kind beispielsweise beim Malen Defizite hat. JoSchua kümmert sich aber auch um Kinder mit beispielsweise Autismus-Spektrums-Störung.

Die drei Einzelschicksale, die Psychologin und Leiterin Marlen, Logopädin Maria und die selbst betroffene Erzieherin Evelyn erzählen sind mindestens sehr dicht an der Wahrheit. Weil wir aber die Biografien der kleinen Klienten schützen möchten, hat die Redaktion die Namen erfunden und die Geschehnisse soweit verändert, dass niemand wiedererkennbar ist. Auch die Bilder zeigen nicht die Betroffenen.

Joshua und Lisa

Einrichtungssleiterin Marleen erzählt eine fast wahre Geschichte

„Seit März betreuen wir den 10 Monate alten Joshua – ein Frühchen. Die Geburt des Kleinen verlief dramatisch, seine Mutter Lisa musste stundenlang mit wahnsinnigen Schmerzen kämpfen, die Ärzte standen kurz vor der Notoperation. Aber Lisa hat es geschafft und ihr Baby eigenständig zur Welt gebracht. Allerdings war die Geburt ein traumatisches Erlebnis für Mutter und Kind – wo dieser Tag doch einer der schönsten im Leben sein sollte.

Dieses Trauma hat eine tiefe Störung in der Mutter-Kind-Beziehung bewirkt. Lisa verbindet unbewusst die Qualen der Geburt mit Joshua. Das äußert sich in vielen Situationen: Lisa hat Probleme, Joshua auf den Arm zu nehmen. Sie hat kein Gefühl für die Bedürfnisse des Babys, kann selbst eindeutige Emotionen wie Weinen nicht einschätzen. Häufig reagiert sie unangemessen – beispielsweise indem sie den schreienden Joshua einfach zurück ins Körbchen legt und den Raum verlässt. Lisas Rückzug ist verständlich, sie muss selbst diese Geburt verarbeiten und das Baby bleibt außen vor.

In diesen Fällen arbeiten wir, neben der Entwicklungsförderung des Kindes, vor allem mit der Mutter. Wir ‚erklären‘ der Mama ihr Kind. Wenn Joshua weint, machen wir Lisa darauf aufmerksam, zeigen ihr, wie sie mit dem Kleinen in dieser Situation umgehen kann. Gemeinsam finden wir Lösungen für den Alltag – Schlafen, Füttern, das Bäuerchen, Spielen und Kuscheln. Gerade der Körperkontakt ist enorm wichtig, um eine Bindung zwischen Mutter und Kind aufzubauen.
Lisa und Joshua sind erst wenige Wochen bei uns, aber wir können uns schon gemeinsam über die ersten Fortschritte freuen – dafür sind wir hier!“

Jonny ist nicht mehr sprachlos

Von Maria erfahren wir die Geschichte über den kleinen Jonny

„Mit seinen 5 Jahren hat Jonny schon die halbe Welt gesehen. Er ist in Deutschland geboren, dann mit seiner Familie für drei Jahre nach Asien gezogen, und lebt jetzt wieder in Leipzig. Jonnys Mutter kommt aus dem Baltikum, der Vater aus Indien, zuhause ist Englisch ‚Amtssprache‘, und vor der Tür sprechen die Menschen deutsch. Dieses Durcheinander kann schon normal entwickelte Kinder überfordern, aber bei Jonny kommt hinzu: er hat eine Wahrnehmungsstörung.

Jonny reagierte auf die Verwirrung mit Sprachlosigkeit. Wenn überhaupt, äußerte er nur wenige Laute, die kaum Bedeutung hatten. Aber Jonny ist offen und sehr aufnahmefähig. So gelang es uns schnell mit Spielen das Eis zu brechen. Der spielerische Ansatz ist wichtig, denn die Kinder sollen nicht an ‚Therapie‘ denken oder glauben, dass mit ihnen etwas falsch wäre. Schnell stellten sich die ersten Fortschritte ein. Johnny nahm mich an die Hand und führte mich ans andere Ende des Raums, um mir was zu zeigen. Er suchte eindeutig den ersten Körperkontakt begann uns zu vertrauen.

Dies war die Basis für Kommunikation – jetzt konnten wir gemeinsam an der Sprache arbeiten. Da Jonny sehr auf Bilder anspricht, nutzen wir Displays, die ein Bild zeigen – beispielsweise eine Katze. Anschließend kann das Kind auf eine Taste drücken und es folgt die Sprachausgabe ‚Katze‘. So verbindet sich das Bild mit dem Hören. Das hat Jonny sehr geholfen, mittlerweile spricht er erste Worte mit uns.

Jetzt möchten wir uns gemeinsam Jonnys Wohnumfeld anschauen. Vielleicht schaffen wir es, das Sprachchaos zuhause durch eine klare Rollenverteilung zu ersetzen. Es wäre für Jonny schon eine große Erleichterung, wenn die Eltern – statt in Englisch – in ihrer jeweiligen Muttersprache mit ihm sprechen. Manchmal sind einfache Lösungen die besten.“

Mut für alle Eltern

Evelyn spricht über ihren Sohn

„Mir ist schon früh aufgefallen, dass mein Kind ein bisschen grobmotorisch ist. Wenn Felix kuscheln wollte, knallte er mit seinem Kopf an meinen. Das ging in der Kita weiter: Felix möchte jeden drücken – drückt aber so fest, dass er den anderen Kindern wehtut. Er versteht dann nicht, was das Problem ist und reagiert aggressiv, mit Schreien, Spucken, Hauen. Das hat sich immer weiter aufgeschaukelt und ich wusste: Hier stimmt etwas Grundlegendes nicht. Die erste Ergotherapie und eine Frühkindliche Interaktionsstunde halfen nicht weiter. Ich war verzweifelt. Obwohl ich selbst ausgebildete Erzieherin bin, wusste ich, wir brauchen externe Hilfe.

Dann hat mich eine Freundin auf die Frühförderstelle aufmerksam gemacht. Sie ist im gleichen Gebäude wie die Kita HOCHhinaus, in der ich arbeite. So „klopfte“ ich bei meinen Kollegen an und dann ging alles ganz schnell: Im Erstgespräch haben wir gemeinsam geklärt, was wir erreichen wollen und können. Felix hat gleich die Gelegenheit genutzt und die Therapeutin gehauen – ein toller Start! Aber die Mitarbeiterin nahm es locker: ‚Das ist OK, wir müssen uns eben kennenlernen‘. Beim nächsten Termin haben die Betreuerinnen einen ausführlichen Test gemacht und nach der Auswertung war klar, wir müssen mit Felix‘ an seinem sozialen und emotionalen Verhalten arbeiten. Endlich eine Diagnose, an die wir ansetzen konnten!

Jetzt bekommt Felix Frühförderung, Ergotherapie und Logopädie – das komplette Programm. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das hinkriegen. Denn Felix kann gut sprechen, seine Kommunikation nur nicht zielsicher einsetzen. Er äußert sich über Mimik und Gestik, erkennt die Gefühle der anderen, möchte lieb sein und helfen – aber schießt einfach immer knapp daneben. Das muss so frustrierend für den Kleinen sein.

Was mir wichtig ist: Vielen Menschen meinen, dass Erzieher ihre eigenen Kinder im Griff haben müssten – sie sind schließlich Fachkräfte. Aber das stimmt nicht, auch wir können überfordert sein. Ich möchte allen betroffenen Eltern Mut machen, den Schritt zu gehen und in der Frühförderstelle anzurufen. Sie werden sehen, dass sie nicht allein sind, dass die Therapeuten solche Geschichten häufig hören. Und wir alle wollen doch einfach nur, dass es unseren Kindern gut geht.“