09.05.2022

Die eigene Mutter nochmal neu kennenlernen

Gruppe für pflegende Angehörige trifft sich am 16. Mai. Welche Rolle die Treffen spielen, berichten Juliane Thurn, die ihre Mutter pflegt, und die Gerontologin Elisabeth Feustel im Gespräch

Die Fachstelle für pflegende Angehörige der Johanniter lädt Partner, Verwandte oder Kinder von pflegebedürftigen Menschen einmal im Monat zu einem Austausch ein, der vielen Rückhalt und einen Ausblick gibt. Das nächste Treffen findet am 16. Mai von 17:30 bis ca. 19 Uhr in der Baierbrunner Straße 39 statt. Eine Anmeldung per Mail an oder telefonisch unter 089 1247344-181 ist erforderlich.

 

Seit drei Jahren sind Sie regelmäßig bei den Treffen der Johanniter-Fachstelle für pflegende Angehörige dabei. Wie ist Ihre Situation zu Hause?
Juliane Thurn: 
Vor dreieinhalb Jahren ist meine jetzt 86-jährige Mutter aus Altersgründen zu mir gezogen. Sie konnte einfach nicht mehr alleine auf dem landwirtschaftlichen Anwesen leben und braucht Hilfe im Alltag. Nun wohnen wir gemeinsam in einer Zweizimmerwohnung in der Stadt.

 

Das kling nach einem gewaltigen Schritt.
Juliane Thurn: 
Ja, es hat lange gedauert, bis sie sich eingelebt hat. Das war eine große Umstellung – für uns alle.

Elisabeth Feustel: Dass man so dicht mit einem Elternteil zusammenzieht, ist schon ungewöhnlich. Im gleichen Wohnhaus ja, das kommt öfter vor. Aber eine kleine Wohnung, das ist eine große Veränderung für alle Beteiligten. So eine Situation kann aber auch sehr eng zusammenschweißen. 

 

Und dabei hat der Austausch mit anderen Angehörigen geholfen?
Juliane Thurn:
 Absolut. Das erste Jahr war sehr schwierig, bis sich alles eingespielt hat. Meine Mutter hatte in dieser Zeit auch Depressionen und die Situation in der Familie war und ist nicht ganz einfach. Da hat es mich enorm entspannt, mit anderen Menschen zu sprechen, die in einer ähnlichen Situation sind. Ich nehme aus der Angehörigengruppe viel mehr Tipps und Anregungen mit, als durch Internetrecherchen. Und ich fühle mich in einer gewissen Weise vorbereitet, auf das, was noch kommen könnte.

Elisabeth Feustel: Man steht durch den regelmäßigen Austausch nicht plötzlich vor einem neuen Problem, sondern hat davon schon gehört und kennt vielleicht auch schon einen Lösungsweg – noch bevor das Problem auftritt. Etwa durch weitere Unterstützungsmaßnahmen wie eine Tagespflege

 

Sind Unterstützungsmaßnahmen wie eine ambulante Pflege oder Tagespflege denn immer hilfreich für pflegende Angehörige. Kann man das jedem empfehlen?
Elisabeth Feustel:
 Ich rate zum Pflegedienst, um das Verhältnis zu entspannen. Gerade wenn Kinder in die Situation kommen, Eltern zu pflegen. Diese Rollenumkehr ist belastend und beansprucht die Beziehung. Wenn dann auch noch das Gefühl aufkommt, man müsse alles alleine machen, wenn keine Geschwister verfügbar sind, dann ist es höchste Zeit einen Teil der Aufgaben an die Experten eines ambulanten Pflegedienstes abzugeben – etwa die Körperpflege. Der Pflegedienst wahrt eine professionelle Distanz und gleichzeitig gewinnt man als pflegende Person für sich selbst etwas Zeit.

Juliane Thurn: Gerade die Einschränkung in der Privatsphäre ist enorm, wenn man in einer Wohnung zusammenlebt. In der Angehörigengruppe thematisieren wir das regelmäßig. Und dort bekomme ich für meine Entscheidungen den Rückhalt, den mir meine Familie nicht geben kann. So habe ich mich beispielsweise dafür entschieden, derzeit noch keinen Pflegedienst zu nutzen. Aber ich wüsste schon, welche Schritte die nächsten wären, wenn es mal nötig ist und habe viele Empfehlungen gehört.

Elisabeth Feustel: Jede Familie hat ein anderes Familiensystem. Darauf gehen wir in der Gruppe, aber auch besonders bei der individuellen Einzelberatung in der Fachstelle ein und suchen in der Beratung spezielle Angebote, die passen und vermitteln weiter. Bei Frau Thurn war es beispielsweise das bäuerliche Erbrecht und der Hinweis auf eine darauf spezialisierte Fachberatung. Der Austausch mit anderen ist dabei ungemein wichtig, denn Pflegebedürftigkeit und Demenz isolieren. Oft ziehen sich Familie und Freunde zurück. Das geht vielen so und in der Gruppe erfährt man: Ich bin nicht schuld daran und ich bin auch nicht alleine.

 

Wann sollt man aus Ihrer Sicht den Kontakt zu einer Angehörigengruppe oder einer Beratung in einer Fachstelle für pflegende Angehörige aufnehmen?
Juliane Thurn: 
So früh wie möglich, denn dann ist es keine Überwindung, hinzugehen. Hätte ich schon große Probleme durch die Pflegesituation gehabt, wäre es mir vermutlich nicht so leicht gefallen. Und jetzt bin ich sehr dankbar für diesen Austausch und erfreue mich an vielen kleinen gemeinsamen Momenten mit meiner Mutter, in denen sie mich immer wieder überrascht.

 

Zum Beispiel?
Juliane Thurn: 
Sie hat nach einiger Zeit in der neuen Umgebung begonnen, Dinge neu zu entdecken. Etwa ein Smartphone, das sie nun nutzt. Und sie hat begonnen, Mundharmonika zu spielen und begleitet mich zu musikalischen Proben. Ich habe meine Mutter wirklich nochmal neu kennenlernen können. Und dafür sind wir beide dankbar.