Das Wohl der Gesellschaft stets im Blick
Ria und Diether Liedtke erhalten Bundesverdienstkreuz
Auf der Autofahrt nach Hause reifte in Lars Steenken, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berner Gemeinderat, ein Entschluss. Gerade hatte ihm Diether Liedtke, Ortsbeauftragter im Ortsverband Stedingen der Johanniter-Unfall-Hilfe, während der Feier zu seinem 70. Geburtstag von seinen zahlreichen Erlebnissen und Aktivitäten berichtet. Neben den Johannitern engagierte sich Diether Liedtke viele Jahre in der Lokalpolitik und in anderen sozialen Bereichen. So viel Engagement muss geehrt werden, beschloss Steenken und rief Bernes Bürgermeister Hartmut Schierenstedt an, um alles für die Verleihung eines Bundesverdienstkreuzes in die Wege zu leiten. „Witzig“, sagte der am Telefon. „Ich sitze gerade an einer Empfehlung zur Verleihung eines Bundesverdienstkreuzes an Ria Liedtke.“ Also wurden beide Anträge gleichzeitig auf dem Weg gebraucht. Eigentlich sollte die Verleihung schon zum 50-jährigen Jubiläum bei den Johannitern erfolgen. Bis dahin waren es noch fünf Monate. „Am Ende hat es drei Jahre gedauert“, erzählt Steenken. Jetzt aber war es soweit: Stephan Siefken, Landrat des Landkreises Wesermarsch, durfte Ria und Diether Liedtke das Bundesverdienstkreuz an die Brust heften. Jeden einzelnen, denn wie Siefken betonte: „Hier wird kein Ehepaar ausgezeichnet, sondern zwei Personen, die jeweils herausragende Leistungen für die Gesellschaft erbracht haben.“ Und die zufällig seit fast einem halben Jahrhundert verheiratet sind. Irgendwie liegt das in der Familie, denn schon der Vater von Ria und Gründer des Ortsverbands Stedingen, Hans-Udo Arndt, war Träger des Bundesverdienstkreuzes.
Wilfried Barysch, Mitglied im Vorstand des Regionalverbands Weser-Ems der Johanniter-Unfall-Hilfe, lobte das große Verantwortungsgefühl des Ehepaars Liedtke. „Ihr macht das schon seit mehr als 50 Jahren und einen großen Teil des Weges sind wir zusammen gegangen“, erzählte Barysch. Sie seien oft einer Meinung gewesen, aber es gab auch manchmal Streit. „Im Ehrenamt kommt es vor, dass die Leute einfach aufhören, weil sie keine Lust mehr haben, wenn es nicht nach ihrem Willen geht.“ Bei den Liedtkes sei das nie der Fall gewesen. „Das habe ich von euch nie gehört. Ihr wärt auch nie auf den Gedanken gekommen, einfach hinzuwerfen, denn euch lag immer das Wohl der Menschen am Herzen.“ Deshalb haben die Johanniter auch keine Zeit verloren, als die Anfrage zur Stellungnahme zum Antrag aus der Niedersächsischen Staatskanzlei kam. Denn auch bei den Johannitern lag der Antrag schon in der Schublade. „Wenn es jemand verdient habt, dann ihr“, betonte Barysch. Anschließend überreichte Martin Hilse, Dienststellenleiter des Ortsverbands Stedingen, einen Präsentkorb mit einem Reisegutschein zu den Störtebeker-Festspielen nach Rügen.
In die Wesermarsch verschlagen hatte es den gebürtigen Celler Diether Liedtke 1965, um in Lemwerder eine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Metallflugzeugbauer anzutreten. Doch statt dem Handwerk treu zu bleiben, entdeckte der junge Mann seine Ader fürs Soziale, begann 1972 eine berufsbegleitende Ausbildung zum Erzieher, lernte seine Frau Ria kennen und entwickelte die Idee zur ersten familiären Wohngruppe des CVJM-Sozialwerks Wesermarsch. 42 Jahre war er dort bis zur Pensionierung beschäftigt und hat zusammen mit seiner Frau mehr als 60 Jungen Halt im familiären Umfeld gegeben.
1969 trat er als ehrenamtliches Mitglied den im gleichen Jahr von seinem späteren Schwiegervater Hans-Udo Arndt gegründeten und als Ortsbeauftragter geführten Ortsverband Stedingen der Johanniter- Unfall-Hilfe bei. Neben seinem Engagement für die Johanniter war Diether Liedtke mit der Jugendgruppe des CVJM verbunden, aus der er dann die ersten ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen für die Johanniter rekrutierte. Das führte dazu, dass der Ortsverband Stedingen mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren in den Anfängen eine der jüngsten Helferschaften bundesweit hatte. Nach Absolvieren der Bundeswehrzeit kehrte Diether Liedtke 1971 zu den Johannitern zurück und brachte seine Frau gleich mit. Fortan wirkte Ria an seiner Seite, unterstützte ihn maßgeblich bei seinem Engagement und brachte sich selber aktiv ein. Sie ließ sich zur Rettungsassistentin ausbilden und fuhr im damals gerade im Aufbau befindlichen Rettungsdienst mit – zu einer Zeit, als Frauen selten als tatkräftig anpackende Retterin im Notfall bekannt waren, sondern eher als hilfsbedürftiges Opfer. Ria Liedtke hat mit ihrem Engagement viel für die Gleichberechtigung von Frauen im Rettungsdienst getan, aber auch gemeinsam mit ihrem Mann den Rettungsdienst als Dienstleistung etabliert.
Vieles war noch ungeregelt und es war dem Ehepaar Liedtke zu verdanken, dass es in der südlichen Wesermarsch in dieser Zeit vor der Verabschiedung des Rettungsdienstgesetzes des Landes Niedersachsen 1974 ein organisiertes Rettungswesen gab. Wesentlicher Antrieb war dabei die gefährliche Arbeit mit zahlreichen Unfällen auf den Werften in der Umgebung, für die ein Rettungsdienst sinnvoll war. Die junge Helferschaft der Stedinger Johanniter organisierte den Rettungsdienst und schaffte es, eine 24-stündige Bereitschaft an sieben Tagen in der Woche zu stellen. Dabei schliefen die ehrenamtlichen Retter in der Wache und waren dort telefonisch erreichbar. Die Alarmierung erfolgte mangels einer Notrufnummer oft noch über die Polizei, aber die Nummer der Wache wurde auch nach und nach in der Bevölkerung bekannt. Diese Bekanntheit führte besonders an Sonnabenden zu einem erhöhten Aufkommen an Anrufen, weil die Menschen in der südlichen Wesermarsch wussten, dass unter dieser Nummer jemand zu erreichen war und diejenigen interessiert die Spiele der Fußballbundesliga am Radio verfolgten. Wer am späten Nachmittag oder abends wissen wollte, wie sein Lieblingsverein gespielt hatte, rief deshalb bei den Johannitern an und fragte – in Zeiten weit vor Einführung des Internets – dort nach. Heute betreiben die Johanniter drei Rettungswachen in der Wesermarsch.
1977 übernahm Diether Liedtke das Amt des Ortsbeauftragten von seinem Schwiegervater. Weiterer wichtiger Meilenstein war 1985 die Einführung des Hausnotrufs. Diether Liedtke hatte zufällig von dieser noch jungen Technik gelesen, mit der vor allem ältere Menschen über ein spezielles Gerät am Telefon durch Druck auf dem Knopf eines am Körper mitgeführten Handsenders im Notfall Hilfe rufen können. Die Notrufe wurden an das Telefon in der Wache weitergeleitet, anfangs fuhren vor allem Ria und Diether Liedtke zu den Notrufkunden raus und halfen. Aus dieser bescheidenen Keimzelle entwickelten sich die Johanniter zu einem der größten Anbieter von Hausnotruf in Deutschland. Die heute zweitgrößte Johanniter-Zentrale mit mehr als 50.000 Kunden und täglich mehr als 1500 eintreffenden Notrufen befindet sich immer noch im Ortsverband Stedingen.
1981 rutschte Diether Liedtke mehr durch Zufall durch Kontakte über die Johanniter in die Kommunalpolitik und wurde – anfangs noch parteilos, später für die SPD - Mitglied des Kreistags und des Rats der Gemeinde Berne. 1989 wurde er Bürgermeister der Gemeinde Berne und repräsentierte sieben Jahre lang als letzter ehrenamtlicher Bürgermeister die Gemeinde. Im Kreistag blieb er fast 25 Jahre aktiv, im Gemeinderat sogar 35 Jahre. Dadurch erfuhr er von der Schließung der Tafel in der Gemeinde und den damit verbundenen Schwierigkeiten für bedürftige Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf die Lebensmittelzuwendungen angewiesen waren. Kurzerhand gründete er 2007 die Johanniter-Lebensmittelausgabe „Radieschen“, die heute mehr als 600 Menschen in den Gemeinden Berne, Elsfleth und Lemwerder versorgt. Wie bei allen anderen Dingen steht dabei für die Eheleute Liedtke die Hilfe am Nächsten im Vordergrund. Statt Konkurrenz pflegen die beiden eine intensive Kooperation mit anderen Tafeln und tauschen überschüssige Waren mit ihnen aus.
2011 ersannen die Eheleute Liedtke eine Lösung für ein weiteres Problem in der modernen Gesellschaft: die zunehmende Entfremdung und Vereinsamung vor allem älterer Menschen. In Brake eröffnete am 25. August 2011 der Nachbarschaftstreff „Vogelnest“, der seitdem ein Begegnungs- und Beratungsort mit Angeboten vor allem für ältere Menschen ist. Und weil es so gut lief, eröffnete der Ortsverband Stedingen am 13. Februar 2017 den „Eschhoftreff“ in Lemwerder, der mit dem gleichen Konzept Bewohnende in der ehemaligen Werftarbeitersiedlung „Eschhof“ anspricht und dort auch Menschen mit Migrations- und Flüchtlingsgeschichte Zugang zur Gesellschaft verschaffen will. Ria und Diether Liedtke fühlen sich mit den Projekten so sehr verbunden, dass sie bei der Eröffnung die Gäste persönlich mit selbstgemachter Erbsensuppe versorgten. Für viele Menschen kochen ist kein Problem für die beiden, die stets ein offenes Haus für andere Menschen hatten und sich neben ihren vielen anderen Aktivitäten auch als Köche der Feldküche des Ortsverbands Stedingen im Katastrophenschutz engagierten. Legendär ist bis heute der Einsatz der Eheleute Liedtke beim Elbehochwasser 2002, als sie 500 Feuerwehrleute einer Kreisbereitschaft aus der Feldküche versorgten. Während andere Küchen im Feld wegen der fehlenden Infrastruktur einfache Gerichte wie Erbsensuppe und Nudeln vorziehen, servierten die Liedtkes knusprig gebratene Schnitzel. Begründung für die große Mühe war: „Die Jungs müssen nicht nur satt werden, es muss auch schmecken. Schließlich haben sie den ganzen Tag geschuftet, ohne Geld dafür zu verlangen.“