Nach-Gedacht: „Der unbesiegbare Sommer Gottes“
Liebe Johanniterinnen und Johanniter!
„Inmitten des Winters entdecke ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.“
Albert Camus schrieb diesen Satz nach den dunklen Erfahrungen des Krieges. Er kannte den Winter der Welt: Kälte, Sprachlosigkeit, Enttäuschung. Und doch entdeckte er inmitten all dessen eine Quelle, die nicht versiegte – eine Wärme, einen unbesiegbaren Sommer. Und wie sehr passt dieser wunderbare Gedanke auch in unsere Zeit.
Für uns Glaubende klingt darin etwas vom Geheimnis Gottes auf. Denn wir vertrauen: In jedem Menschen ist eine unverlierbare Würde, ein göttlicher Funke, der auch im Winter des Lebens nicht erlischt. Dieser Sommer ist nicht nur Lebenswille, sondern Zeichen der Gegenwart Gottes, die uns in Jesus Christus ansieht und zuhört. Und darum passt dieses Wort so gut zu dem Satz Jesu im Matthäusevangelium, der für uns Johanniter ein Schlüsseltext ist: „Was ihr getan habt einen von diesem meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Mt 25,40b) Und die Schwestern sind ebenso angesprochen.
Dieses Gleichnis vom Weltgericht ist ein herausfordernder Text. Es zeigt uns: Christus selbst begegnet uns in den Hungrigen, den Kranken, den Fremden, den Vergessenen. Die Zumutung: Wir können Christus verpassen, wenn wir die Geringen, die wir für gering halten, übersehen. Die Verheißung: Jeder kleine Dienst der Liebe wird zu einer Begegnung mit Christus selbst.
Genau darin liegt die Identität der Johanniter-Schwesternschaft und all derer, die unsere Schwesternschaft begleiten. „Dienst an den Herren Kranken“, so nennen wir unseren Auftrag. Wir sehen im Anderen nicht nur den Patienten, die Bewohnerin, den Kollegen. Wir sehen Christus selbst in ihrem, in seinem Antlitz.
Doch Sehen allein genügt nicht. Wirkliche Nähe geschieht erst, wenn wir zuhören. Der Medizinethiker Giovanni Maio hat es so beschrieben: „Wer zuhört, öffnet einen Raum, in dem der andere Mensch sein darf und kann, wie er ist.“ Zuhören ist nicht bloß Technik, sondern eine Lebenshaltung, Hingabe. Zuhören bedeutet ein Ernstnehmen der Lebensgeschichte, eine Achtsamkeit für das Unsagbare. So wie Gott uns in Jesus Christus anspricht, so sind wir gerufen, auf diese Weise uns zuhörend von Antlitz zu Antlitz zu begegnen.
Das geschieht mitten im Alltag unserer Einrichtungen und in unserem persönlichen Leben:
wenn wir eine Patientin nicht nur einfach behandeln, sondern ein offenes Ohr schenken, eine Geste der Verbundenheit zeigen;
wenn wir einem erschöpften Kollegen zuhören, anstatt über seine Schwäche hinwegzusehen;
wenn wir einen Menschen mit Demenz Geduld schenken, auch wenn er uns zum zehnten Mal fragt;
wenn wir in der Übergabe nicht nur Zahlen und Fakten weitergeben, sondern das Schicksal des uns anvertrauten Menschen teilen.
So entstehen mitten im Winter des Alltagslebens kleine Sommermonate; Augenblicke der Wärme, die Christus gegenwärtig macht. Das macht uns nicht besser innerhalb derer, die im Sozialwesen ihrer Arbeit und Verantwortung nachgehen, aber anders.
Als Johanniter leben wir unser Motto: Aus dem Glauben – für den Menschen; eben aus Liebe zum Leben. Wo wir einander sehen, einander zuhören, füreinander da sein wollen, da ist Christus selbst mitten unter uns. Luther hat es auf seine Weise so wunderbar auf den Punkt gebracht: „Gott braucht deine guten Werke nicht, aber dein Nächster braucht sie.“ Wenn wir eben dies nicht aus dem Auge verlieren in unserem alltäglichen Handeln, dann besteht nicht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft den verletzbaren, angefochtenen Menschen aus dem Auge verliert!
Bernd Kollmetz, Seelsorger in den Johanniter-Ordenshäusern Bad Oeynhausen