Sandra

// Sandra ist Pflegefachkraft im Johanniterhaus Mansfeld.

„Da ist ja wieder unsere Tänzerin!“ ruft eine der Bewohnerinnen und schaut vergnügt der Pflegerin hinterher, die im Rhythmus der Musik durch den Speisesaal tänzelt. Es wird kein Fest gefeiert, die Bewohnerinnen und Bewohner sitzen beim Essen, doch das hält Sandra nicht davon ab, etwas Schwung in die Sache zu bringen. Sandra singt und tanzt, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, und wenn es eben bei der Essensausgabe ist. Es ist ihr zweites Jahr im Johanniterhaus Mansfeld. Seitdem sie da ist, wird immer öfter das Radio aufgedreht. Alle lassen sich von ihrer guten Laune anstecken, nicht nur die Senioren, auch ihre Kolleginnen und Kollegen reißt Sandra mit. Dabei konnte sie sich vor kurzem noch gar nicht vorstellen, in einer stationären Pflegeeinrichtung zu arbeiten. 

Nach der Schule möchte Sandra eigentlich Krankenschwester werden. Für eine Ausbildung zieht sie nach Dortmund. Doch obwohl sie dort Verwandtschaft hat, ist das Heimweh zu groß. Ohne ihre Eltern und ihren Freund hält Sandra es keine Woche in der fremden Stadt aus. Sie kehrt zurück, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr bei einem ambulanten Dienst, danach eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Viele Jahre arbeitet sie in der häuslichen Krankenpflege, fährt von Wohnung zu Wohnung, um ihre Patientinnen und Patienten zu versorgen. Immer in Bewegung zu sein bereitet ihr Freude. Doch nach einigen Jahren merkt sie, dass der Job anfängt, an ihr zu zerren. Denn mittlerweile haben Sandra und ihr Freund geheiratet, sind Eltern geworden. 

Als ihre kleine Tochter eingeschult wird, fällt es Sandra immer schwerer, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Oft arbeitet sie in zwei Schichten. Morgens verlässt sie als Erste das Haus. Am Nachmittag schafft sie es kaum, mit ihrer Tochter Hausaufgaben zu machen, muss schnell wieder los, weil die Abendschicht beginnt. Mit Tränen in den Augen sitzt Sandra am Steuer. Und obwohl sie ihren Job liebt, kommt der Moment, in dem sie eine Entscheidung treffen muss. 

„Sandra, wo gehst du denn hin? Wir kommen mit dir mit!“ 

In Wippra hat Sandra viele Jahre lang ihre Patientinnen und Patienten zuhause besucht, sich um sie gekümmert und sie begleitet. Beim Abschied müssen alle weinen, auch Sandra kommen die Tränen. Man hat sich aneinander gewöhnt, sich gegenseitig ins Herz geschlossen. Sandra wird überschüttet von Pralinenschachteln, von Blumen und warmen Worten. Dass sie nicht mehr wiederkommt, können viele kaum glauben.

Auch Sandra muss sich erst an ihren neuen Arbeitsplatz in der stationären Pflegeeinrichtung gewöhnen. Lange war sie allein auf Achse, zu Kolleginnen und Kollegen hatte sie in ihrem alten Job wenig Kontakt. Im Johanniterhaus Mansfeld merkt sie schnell, wie viel Spaß es macht, Hand in Hand mit anderen zu arbeiten. Hier kann sie sich auf ein ganzes Team verlassen, auf Menschen, die ihr zur Seite stehen. Als sie noch allein unterwegs war, musste sie sich vieles selbst erarbeiten. Heute will sie ihr Wissen weitergeben, macht eine Fortbildung zur Praxisanleiterin. Da ist so viel, das sie mit anderen teilen kann. Und wenn sie tänzelnd durch den Speisesaal wirbelt und ein Lied summt, gibt es immer jemanden, der mit einstimmt.

Auch zuhause hat die Lage sich entspannt. Sandra kann das Auto stehen lassen, zu Fuß zur Arbeit gehen. Wenn sie Frühdienst hat, verbringt sie den Nachmittag mit ihrer Tochter und ihrem Sohn, hilft bei den Hausaufgaben und isst mit ihrer Familie zu Abend. An anderen Tagen hat sie morgens genug Zeit, um die Kinder fertigzumachen, sich mit ihnen gemeinsam auf den Tag einzustimmen. Abends ist sie rechtzeitig wieder da, um ihnen einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. 

Obwohl Sandra ihre ehemaligen Patientinnen und Patienten vermisst, ist sie froh, sich für den Jobwechsel entschieden zu haben. Doch zum Glück ist aus den Augen nicht gleich aus dem Sinn. Wenn Sandra Geburtstag hat, gibt es viele, die an sie denken, die anrufen, um ihr zu gratulieren. Und manchmal kommt es vor, dass man sich zweimal im Leben begegnet. Auch, wenn die Umstände nicht immer dieselben sind.    

„Oh, wir kennen uns ja!“ ruft die ältere Dame erfreut aus, als sie Sandra zum ersten Mal im Haus begegnet. Sie ist gerade ins Johanniterhaus Mansfeld gezogen. Wenn sie zum Essen in den Speisesaal kommt, macht sie sich zurecht, trägt eine schicke Bluse oder eine hübsche Kette um den Hals. Auch Sandra freut sich riesig über die unerwartete Begegnung. Nicht nur, weil eine alte Bekannte eingezogen ist und sie jetzt Zeit miteinander verbringen können. Sondern auch, weil die Frau sich trotz ihrer Demenzerkrankung an Sandra erinnert. 

Vier Jahre zuvor. Sandra parkt ihren Dienstwagen vor einer kleinen, hübschen Boutique in Wippra. Im „Modestübchen“ wird sie schon erwartet. Die Besitzerin geht schon auf die 80 zu. Sie selbst ist fit wie ein modischer Turnschuh, führt das kleine, lokale Modegeschäft ganz allein. Sandra ist nicht ihretwegen hier. Oben, in der Wohnung über dem Geschäft, wartet ihre Enkelin. Nachdem Sandra die pflegebedürftige Frau versorgt hat, geht sie herunter in den Laden, trinkt noch einen Kaffee mit der Großmutter, lässt sich die neueste Kollektion zeigen. 

Vier Jahre ist das jetzt her. Für Sandra gibt es nichts Schöneres, als sich um ihre alte Bekannte kümmern zu dürfen. Schon immer fiel es ihr leicht, einfühlsam mit dementen Patientinnen und Patienten umzugehen. In der ambulanten Pflege hat sie viele Erfahrungen mit dieser Krankheit gesammelt. Sie weiß, wie wichtig es ist, Geduld zu haben, sich Zeit zu nehmen, wirklich präsent zu sein. Und dass sich diese ungeteilte Aufmerksamkeit auszahlt. Denn es kommt immer wieder vor, dass die Erkrankten sich erinnern. An frühere Zeiten. An Momente, in denen sie glücklich waren. So auch die ehemalige Besitzerin des „Modestübchens“. Sie vergisst zwar einiges, jedoch nicht, sich für jede Gelegenheit schick zu machen.