Sarah

// Sarah arbeitet als Pflegefachkraft in der ambulanten Pflege im Johanniterhaus Mansfeld.

Vor dem Haus steht ein kleiner, roter Wagen und wartet auf seinen Einsatz. Sarah öffnet die Autotür, setzt sich ans Steuer. Heute ist sie nicht allein unterwegs. Neben ihr auf dem Beifahrersitz legt ihre Oma gerade den Gurt an. Sarah startet den Motor, sie fahren durch ihr Heimatdorf Alterode, vorbei an Fachwerkhäusern mit roten Ziegeldächern, raus auf die Landstraße. Nach einem Sturz vor einigen Jahren ist die Großmutter nicht mehr viel zu Fuß unterwegs. Doch zum Glück ist da Sarahs roter Flitzer, mit dem die beiden hin und wieder einen Abstecher zum Supermarkt machen können. Oder, wie heute, einen gemeinsamen Shopping-Ausflug nach Aschersleben. Sarah fährt ihre Oma gern. Sie freut sich, wenn es einen Anlass gibt, zusammen das Haus zu verlassen, etwas zu unternehmen. Und wieder einmal ist sie froh, dass sie damals ihre Angst überwunden und ihren Führerschein gemacht hat. Zwar etwas später als andere, aber besser spät als nie! 

Heute arbeitet Sarah als Pflegefachkraft im ambulanten Dienst. Während ihrer Ausbildung zur Altenpflegerin im Johanniterhaus Mansfeld hätte sie sich das noch nicht vorstellen können. Damals muss die junge Frau täglich 15 Kilometer zu ihrer Arbeitsstelle zurücklegen, manchmal schon früh am Morgen, wenn die Busse noch verschlafen in ihren Garagen stehen. Ans Steuer traut sie sich noch nicht. Zum Glück ist ihre Mutter zur Stelle, fährt Sarah zur Arbeit, wenn es nicht anders geht. Erst, als sie die Ausbildung in der Tasche hat, meldet sie sich mit klopfendem Herzen bei der Fahrschule an. Bei der ersten Fahrstunde sitzt sie mit schwitzigen Händen am Steuer, weiß nicht, ob sie es bis nach Hause schafft.  

Heute ist Sarah tagtäglich mit dem Auto unterwegs, fährt von Haus zu Haus, um ihre Patientinnen und Patienten zu versorgen. Der Job macht ihr Riesenspaß, die schwitzigen Hände und das Herzklopfen am Steuer sind längst vergessen. Manche Dinge im Leben brauchen eben etwas Übung. Für Sarah kommt es nicht in Frage, einfach aufzugeben. 

Für ihre Oma da zu sein ist für Sarah selbstverständlich.  Sie geht die Treppe runter, ins Erdgeschoss, wo ihre Oma wohnt. Wie jede Woche wird sie ihr beim Duschen helfen, ihr die Haare einseifen, das Shampoo auswaschen, ein Handtuch zum Abtrocknen bereithalten. Es geht ihr leicht von der Hand, schließlich hilft Sarah auch in ihrem Job den Patientinnen und Patienten bei der täglichen Körperpflege. „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass es mal so kommt!“ sagt die Oma immer. „Wir sind starke Frauen, wir schaffen das!“ gibt Sarah lächelnd zurück.

Als Sarah noch ein Kind ist, leben in dem Haus vier Generationen. Oben Sarah mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder Pascal, unten die Großeltern mit der Urgroßmutter. Wenn Sarah von der Schule kommt, wartet ihre Oma schon mit dem Mittagessen auf sie. Besonders freut sie sich, wenn es süße Schokoladensuppe gibt. Dann zerbröselt sie einen Zwieback in den Teller und wartet, bis er sich mit dem warmen, flüssigen Pudding vollgesogen hat. Wenn sie den Löffel in den Mund schiebt, schmeckt es nach Liebe, Geborgenheit und Zusammenhalt. 

Heute wohnen Sarahs Eltern im Nachbarort. Auch ihr Bruder Pascal ist ausgezogen – er kommt jedes Wochenende nach Hause, um bei seiner Familie zu sein. Doch es gibt jemanden, der nicht mehr zurückkommen wird. Jemand, den alle schmerzlich vermissen, ganz besonders aber Sarahs Oma. Vor kurzem erst ist der Opa ganz unerwartet verstorben. Wenige Jahre zuvor haben die Großeltern noch goldene Hochzeit gefeiert. Ein ganzes Leben lang waren sie zusammen. Der Oma fällt es schwer, den Verlust zu verwinden. Oft sind es die kleinen Dinge, die den Alltag erträglich machen. Wenn Sarah bei der Arbeit ist, kümmert die Oma sich um Hündin Nala. „Ach, da ist ja mein Hund!“ freut sie sich jedes Mal, wenn Sarah morgens durch die Tür kommt. Manchmal sitzen Oma und Enkelin gemeinsam am Tisch und bröseln Zwieback in warme Schokoladensuppe. Und wenn es mal ganz schlimm ist, ist Sarah da und sagt: „Oma, wir sind stark! Wir schaffen das!“    

In Aschersleben parkt Sarah den kleinen, roten Wagen in der Nähe der Innenstadt. Sie werden durch die Geschäfte bummeln, nach neuen Pullovern für die Oma schauen. Schwarz müssen sie sein, denn noch bringt die Oma es nicht übers Herz, ihre Alltagskleidung zu tragen. Zu schmerzlich ist der Verlust des Mannes, mit dem sie über 50 Jahre lang verheiratet war, mit dem sie Kinder und Enkelkinder großgezogen und ein ganzes Leben geteilt hat. 

Auch Sarah vermisst ihren Opa. Und sie ist dankbar für alles, was sie verbindet. Als Sarah endlich den Führerschein in der Tasche hat, zögert der Opa nicht, ihr sein Auto zu überlassen. Bevor sie sich ihren roten Flitzer kauft, fährt Sarah monatelang mit Opas Wagen zur Arbeit. Nach einem Krankenhausaufenthalt besteht sie darauf, ihn zu rasieren. Der Opa winkt ab, doch Sarah bleibt hartnäckig. „Du hast da einen richtigen Busch, Opa!“ witzelt sie, schäumt den Bart mit Rasierschaum ein, holt das traditionelle Rasiermesser hervor. Nicht jeder kann damit umgehen, Sarah aber schon. Auch einer ihrer Patienten hat so einen Rasierer. Sarah weiß, wie man das Messer richtig hält und anlegt. 

Seit ihrer Schulzeit weiß Sarah, dass sie gern in der Pflege arbeiten möchte. Damals nimmt sie an einer Pflege-AG teil. Zweimal im Monat besuchen die Schülerinnen und Schüler das Johanniterhaus Mansfeld. Sie bekommen einen Einblick in den Berufsalltag. Zur Übung machen sie Spiele, verbinden einander die Augen, füttern sich gegenseitig mit Joghurt. Die Besuche machen Sarah großen Spaß, sie mag die herzliche Atmosphäre. Der Entschluss liegt nahe: Nach der Schule wird sie sich um eine Ausbildungsstelle zur Altenpflegerin bewerben.   

Heute macht Sarah eine Fortbildung zur Praxisanleiterin. Sie will ihr Wissen mit anderen teilen, Tricks und Kniffe weitergeben, die sie sich erarbeitet hat. Auch zuhause kann sie ihr Können gut gebrauchen. Für Sarah steht fest, dass sie sich um ihre Oma kümmern wird, solange es möglich ist. Immer nach der Devise: Wir sind starke Frauen, wir bekommen das hin!