Verena
// Verena arbeitet als Pflegeassistentin im Johanniter-Haus Westerland.
„Ich muss 14 oder 15 gewesen sein, als ich das erste Mal Mittelaltermarktluft geschnuppert habe. Ich hing damals eher mit Jungs ab, Jungs von der Sorte: ‚Wir sind Wikinger.‘ Da waren die Mittelaltermärkte natürlich nicht weit. Der Funke ist gleich beim ersten Mal übergesprungen. Alles war so andersartig wie eine Reise in eine ferne Zeit. Leute trugen bunte Gewandungen, es wurde Bier und Met aus Kupferbechern getrunken und abends saß man gemeinsam am Feuer und hat musiziert. Schon bei meinem ersten Mal wusste ich: Das möchte ich ab jetzt öfters haben.
Ich bin generell ein bunter, eher flippigerer Typ – da kommen mir die Verkleidungen auf den Märkten natürlich gerade recht. Wenn wir losziehen, trägt mein Mann eine Ritterrüstung. Ich habe verschiedene Kleider, Korsagen und Felle, mit denen ich mich nach Lust und Laune schmücken kann.
Dass mein Mann dasselbe Faible wie ich hat, ist schon ein lustiger Zufall. Wir haben uns nämlich nicht auf einem Mittelaltermarkt kennengelernt. Aber die Faszination für das Mysteriöse hat uns trotzdem zusammengeführt – besser gesagt dieser eine Satz aus einem meiner Lieblingsvideospiele: ‚Bleibt ein Weilchen und hört zu‘. Aus dem kleinen Weilchen ist dann unsere Ehe entstanden.
Ja, auf Mittelaltermärkten kann man wahrlich in eine andere Welt abtauchen – an jeder Ecke gibt es etwas zu schnuppern, zu staunen und zu erleben. Es ist immer für gute Unterhaltung gesorgt – und wenn die Isomatte mal kaputt ist oder man einen Hering zum Zeltaufbauen braucht, stehen die Zeltnachbarn meistens mit Rat und Tat zur Seite. So können aus ursprünglichen Marktbekanntschaften schon mal die engsten Freundschaften entstehen. Und falls nicht, hört man die lustigsten Geschichten und wird dann halt für die drei Markttage zu ‚Best Friends‘ – und zwar mit Leuten, mit denen man im „echten Leben“ nie in Kontakt treten würde. Das ist es, was ich daran so liebe.“
„Ich bin mit 16 von zu Hause ausgezogen. Alles, was mein Leben heute ausmacht – meine Familie, Stabilität und meine Arbeit hier auf Sylt – habe ich mir selbst erarbeitet. Als ich 14 war, erkrankte mein Vater an Lymphdrüsenkrebs. Mit seinem Tod brach für mich die ganze Welt, die ich bis dahin kannte, zusammen. Meine Mutter verlor den Boden unter den Füßen. Mein Bruder versuchte mich zu unterstützen, flüchtete sich aber in Arbeit. Meine Oma litt an einer angehenden Demenzerkrankung. Und ich für meinen Teil ging auf Partys, fühlte mich lange Zeit ohne jegliche Perspektive. Jeder war irgendwie allein in der Trauer in seiner eigenen Welt gefangen.
Sylt war für mich dann der Ausweg – ein Ausbrechen aus diesem kleinen Käfig, der mein Leben bis dahin gewesen war. Denn auch in meiner Kindheit hieß es ‚Püppi spielen‘. Ja nicht auffallen. Immer perfekt in irgendwelchen High Society Restaurants neben meinen Eltern sitzen – und von meinem Partner bis zur Ausbildung war für mich sowieso schon alles minutiös durchgeplant.
Das mit Sylt sollte einfach so sein – denn da war nichts geplant, und geklappt hat trotzdem alles. Ich kam auf die Insel, um einen Freund zu besuchen – und dann bin ich mit einem Job in der Tasche nach Hause zurückgekehrt. Um den zu bekommen, musste ich hoch pokern: Ich bin einfach ins Wohnheim einmarschiert und habe die Pflegedienstleitung wissen lassen, dass sie jemanden wie mich in ihrem Team braucht. Das hat irgendwie gezogen. Warum ich das damals gemacht habe, weiß ich nicht – nur, dass ich direkt im Anschluss nach einer Wohnung gesucht und sie noch am selben Tag gefunden habe.
So gesehen war mein Neuanfang in Sylt die beste, aber auch schwierigste Entscheidung in meinem Leben. Meine innere Stimme hat mir gesagt: Du musst alles hinter dir lassen und den Schritt ins Unbekannte einfach wagen!“
„Wenn Leute mich fragen, wie es ist, in einer Altenpflegeeinrichtung zu arbeiten, erzähle ich am liebsten die Geschichte von Schnitzel: Anfang des Jahres gaben eine demenziell erkrankte Bewohnerin und ich ihrem neuen rosa Plüsch-Schwein den Namen „Schnitzel“. Wir lachten herzlich. Ein paar Monate vergingen, bis wir uns wiedersahen. Als ich sie wieder pflegen durfte, erkannte sie mich nur bedingt. Dennoch begrüßte sie mich mit den Worten: ‚Pass bitte gut auf Schnitzel auf, der darf nicht nass werden!‘ Natürlich hatte die Bewohnerin meinen Namen durch ihre Erkrankung nicht behalten – aber die Erinnerung an Schnitzel ist geblieben. Situationen wie diese erfüllen mich mit unendlich großer Freude.
Die Arbeit im Seniorenhaus ist stressig, ja. Aber sie ist auch abwechslungsreich und bunt – genau, wie ich es mag. Und wenn die Dinge mal schieflaufen, ich einen stressigen Tag habe oder nicht mehr weiß, wo mir nach Kindern, Haushalt und Arbeit der Kopf steht, denke ich mir immer noch: Das, was ich in meiner Jugend allein durchmachen musste, hat mich stark gemacht. Ich kann mich jetzt meistens also zurücklehnen und entspannen. Denn der Weg – das habe ich damals verstanden – entsteht beim Gehen.“