Antonia
// Antonia arbeitet als Leitung des Sozialen Dienstes im Johanniterhaus Johann Sebastian Bach in Salzgitter.
„Opa wurde angepöbelt. Die Erinnerung hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Opa hatte sich wie gewöhnlich nach dem Mittagessen seinen Rollator geschnappt und war in Richtung Papiercontainer losgetapert. Ich habe ihm – wie immer – von meinem Kinderzimmer aus nachgesehen. Er war schon fast beim Papiercontainer angekommen, als sich auf einmal ein paar Halbstarke rechts und links neben ihn stellen. Beim ersten Stein war Opa mit seinem krummen Rücken noch ausgewichen. Als ihn der zweite traf, habe ich nur noch Rot gesehen.
Opa hatte einen Krückstock, der direkt neben der Tür in der Küche stand. Ich renne also in die Küche – in Sekundenschnelle den Stock geschnappt – Oma, das weiß ich auch noch, hat mir noch verwundert hinterhergeschrien. Aber im nächsten Moment war es schon geschehen. Ich musste Opa einfach verteidigen – und das Einzige, was mir einfiel, war, einem der Halbstarken mit dem Krückstock eine über die Rübe zu ziehen. Danach verblassen meine Erinnerungen – aber von diesem Tag an ließ ich Opa nie wieder alleine spazieren gehen.
Ansonsten war meine Kindheit wie ein kitschiger Liebesfilm: Friede, Freude, Eierkuchen. Da war so viel Harmonie, so viel Liebe. Ich war die Tochter, die sich meine Oma immer gewünscht hatte – und so verwöhnt wurde ich dann entsprechend auch. Oma hatte immer Zeit, das Essen stand tagein, tagaus dampfend auf dem Tisch. Nachmittags sind wir bummeln gefahren. Oder wir sind in Pfützen reingehüpft, haben unsere Zeit mit Kirschkernspucken oder Wasserbombenwettbewerben verbracht. Oma hat immer gesagt: ‚Mach das Leben nicht ernster, als es ist. Ärgere dich fünf Minuten, alles andere ist vertane Zeit.‘ Wenn ich heute in den Spiegel blicke, denke ich manchmal: Ich sehe aus wie Oma. Und dann lächle ich – genau wie sie – dem Ernst des Lebens einfach ins Gesicht.“
„Mein Sohn Max hat mir den Arsch gerettet. Nachdem wir unseren ersten Sohn Alex kurz vor dem Geburtstermin verloren haben, gab es kaum noch Positives in mir. Das erste Mal in meinem Leben lag ich zu Hause und dachte: Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Mein Chef, meine Kollegen – alle standen bei mir auf der Matte. Alle haben sich Gedanken gemacht und überlegt, wie es jetzt weiter geht.
Dass ich acht Wochen später wieder schwanger war, hat mich gerettet – Max war und ist mein Lichtblick. Es rührt mich immer noch zu Tränen daran zu denken, wie sehr meine Kollegen mitgefiebert haben: Mit dem Verlust meines ersten Sohnes, mit der neuen Schwangerschaft, mit der Geburt. Tagein, tagaus haben sich meine Kollegen darum gesorgt, dass es uns gut geht. Deshalb bin ich so verbunden mit diesem Haus: Ob gute oder schlechte Zeiten, wir haben immer zusammen gehalten. Egal, welcher Sturm über mich hinwegfegte.
Durch den Verlust bin ich ernster geworden – aber viel mehr noch lebe ich Omas Glaubenssatz mit einer ganz anderen Intensität: Für schlechte Laune und Negativität haben wir einfach zu wenig Lebenszeit. Ich möchte meine Zeit hier auf Erden mit schönen Erinnerungen füllen. Egal ob ich mit Max Steinchen in den Fluss schmeiße oder mit den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Theaterprobe inszeniere – ich möchte nicht stumpf rumsitzen und darauf warten, dass um mich herum etwas passiert. Da mache ich mich schon lieber selbst auf den Weg, um etwas zu erleben.
Das Leben kann einfach viel zu schnell vorbei sein. Deshalb ist mein Motto bis zum letzten Tag, der mir bleibt: Sei nicht diejenige, die am Telefon sitzt und wartet, dass jemand anruft. Sei diejenige, die anruft und was zu erzählen hat. Denn am Ende des Tages zählt nur eines: Die Erinnerungen an deine Lieben – diese Momente sind die Einzigen, die bleiben.“
„Das Krippenspiel hat mich bis in die Nacht verfolgt. Ich neige zu Schnapsideen – und in meinem Kopf waren Kulisse, Musik und Kostüme längst fertig, bevor meine Kollegen von ihrem Glück erfahren haben. Das Projekt wurde dann natürlich immer größer. Ich habe stundenlang mit der Kulissenplanung zugebracht – selbst nach der Arbeit habe ich mein Tablet gar nicht mehr aus der Hand gelegt.
Wenn wir schon eine Theateraufführung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern veranstalten, dann aber bitte auch auf unsere Art: Musik, Kulisse und Kostüme wurden hier und da angepasst und umgeschrieben. Wir hatten unzählige Proben und unsere Schauspieler haben ihr Bestes gegeben. Und als dann endlich der Tag der Aufführung gekommen war, platze die Cafeteria aus allen Nähten. Am Ende ist kein Auge trocken geblieben. Jeder war so gerührt und voller Stolz auf unsere Bewohnerinnen und Bewohner – selbst zwei unserer drei Heiligen Könige haben geweint.
Diese Verbundenheit mit meinen Kollegen und den Bewohnerinnen und Bewohnern möchte ich um nichts in der Welt missen. Ich bin hier im Haus groß geworden – meine Kollegen sind wie meine zweite Familie. Da, wo ich mir früher selbst im Weg stand, haben sie mir geholfen, zu wachsen. Am Anfang meiner Ausbildung zum Beispiel – da war ich unheimlich schüchtern. Ich habe den Mund einfach nicht aufbekommen. Schon bei der kleinsten Kritik habe ich Ewigkeiten auf dem Klo verbracht und geheult – ich habe alles unglaublich persönlich genommen.
Aber meine Mentorin hat mich damals ganz sanft ins kalte Wasser geschmissen. Sie und meine Wohnbereichsleitung haben mit mir zusammen an meinen Themen gearbeitet – ohne böse zu sein oder Druck auszuüben, wenn mal etwas schief ging. Hier im Haus habe ich damals meine weiblichen Vorbilder gefunden – Frauen, die mit oder ohne Mann Haus, Kind und Arbeit gewuppt kriegen. Dafür bin ich unendlich dankbar.“