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30.03.2020 | Landesgeschäftsstelle Hannover (Verwaltung)

Optimistisch bleiben in Zeiten der Pandemie

Mein Name ist Alexander Stötefalke (41), ich arbeite an der Johanniter Akademie Niedersachsen/Bremen und bin dort für den Bereich Notfall- & Katastrophenpsychologie verantwortlich.

Angst reduzieren in fünf Schritten mit Andreas Stötefalke
Andreas Stötefalke, Fachleiter Notfall- & Katastrophenpsychologie an der Johanniter-Akademie Niedersachsen/Bremen.

In dieser Funktion wurde ich gebeten Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen ein wenig darüber zu erzählen, wie wir als Johanniter-Gemeinschaft und jede/r Einzelne für sich wieder etwas mehr Kontrolle über die Ängste und die Sorgen, die vermutlich jede/n von uns zurzeit belasten, zurückgewinnen können. Diesem Auftrag komme ich gerne nach und möchte Sie heute einladen, ein bisschen etwas darüber zu erfahren, wie Menschen Risiken einschätzen, wie sie dann mit diesen umgehen und was wir alle tun können, um uns auch über längere Zeit hinweg nicht entmutigen zu lassen.

Warum Corona uns mehr Angst macht als ein Verkehrsunfall

Sie sind bestimmt auch schon auf die Sorte Mensch getroffen die Ihnen Dinge sagt wie “Pro Jahr sterben tausende Menschen an Verkehrsunfällen, da macht auch keiner so eine Panik!” Und vermutlich weiß ein Teil von Ihnen auch, dass diese Information zumindest sachlich richtig ist. Aber erstaunlicherweise beruhigt Sie das nicht wirklich. Warum eigentlich nicht? Weil wir Menschen eine, wie ich finde interessante Art haben mit Risiko und Gefahr umzugehen. Interessant deswegen, weil sie auf der einen Seite erfolgreich dafür gesorgt hat, dass wir Eiszeiten, Naturkatastrophen, Raubtiere und Kriege überlebt haben, auf der anderen Seite aber auch dafür verantwortlich ist, dass Menschen Toilettenpapier “hamstern”, ihre Kinder mit Desinfektionsmittel einsprühen und bei der kleinsten Annäherung an der Supermarktkasse direkt aggressiv reagieren. Lassen Sie uns einen Blick auf unser Gehirn werfen und die Frage beantworten wie es mit Risiko umgeht.

Wie unser Gehirn Risiko bewertet

Um das Risiko einer Sache, etwa eine Infektion mit dem Coronavirus oder eben einen Verkehrsunfall zu bewerten, stellt sich unser Gehirn drei eigentlich ganz einfache Fragen:

  1. Wie hoch ist der wahrscheinliche Schaden der mir droht?
  2. Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser Schaden eintritt?
  3. Kann ich dieses Risiko gut bewältigen?

Was unser Gehirn tut, ist die Antworten auf die ersten beiden Fragen zu einem gemeinsamen Wert zu kombinieren und diesen dann als den Ausgangswert für die dritte Frage zu benutzen. Stellen Sie sich das als eine einfache Rechnung, etwa in der Form ‘Schaden x Wahrscheinlichkeit = Risiko’ vor. Wenn Sie jetzt anzweifeln ob ihr Gehirn so etwas tatsächlich ausrechnet, haben Sie natürlich Recht. Sie haben zwar keine Rechenmaschine im Kopf, aber im Wesentlichen versucht Ihr Gehirn, die Antworten auf die ersten beiden Fragen zu finden um dann die dritte zu beantworten.

Die Frage, die sich jetzt aber stellt, ist die, woher ihr Gehirn die Antworten auf die ersten beiden Fragen bezieht. Für das Risiko des stark vereinfachten Beispiels Verkehrsunfall sind diese Antworten glücklicherweise ziemlich leicht zu finden:

  1. Schadensgröße: Jeder Mensch weiß wie Verletzungen aussehen und was diese anrichten können.
  2. Wahrscheinlichkeit: Wir alle sehen jeden Tag PKW und LKW und haben Situationen erlebt, in denen wir fast selbst von einem KFZ erfasst wurden.

Sie merken an dieser Stelle wahrscheinlich, dass die Antworten auf die ersten beiden Fragen stark von den Erfahrungen, dem Wissen und nicht zuletzt von den Persönlichkeitseigenschaften jeder einzelnen Person abhängen. Offensichtlich wird eine Person, die grundsätzlich ängstlicher ist, das Auftreten von Beinaheunfällen anders bewerten als eine Person mit eher unerschrockenem Gemüt. Der Prozess, mit dem beide Personen zu einem Ergebnis in der Risikobewertung kommen, ist allerdings der Gleiche, eben nur unter individuellen Vorzeichen.

Wie beantworten wir aber jetzt die dritte Frage, die nach der Bewältigung des geschätzten Risikos? Auch diese Antwort fällt uns meistens nicht schwer, da wir alle ziemlich gut wissen, was wir tun müssen, um Unfälle zu vermeiden (Nach links und rechts gucken, nicht zu schnell fahren, Schulterblick etc.). Zusätzlich haben wir alle im Alltag erlebt, dass dieses Verhalten tatsächlich dazu führt, dass wir das Risiko eines Verkehrsunfalls ganz gut im Griff haben.

Bei Corona sieht die Sache leider etwas anders aus. Wir können zwar noch halbwegs gut abschätzen, wie hoch der Schaden für uns persönlich sein könnte. Aber die tatsächliche Wahrscheinlichkeit dieses Schadens, in einer konkreten Situation können wir nur sehr schlecht bis gar nicht einschätzen. Erinnern Sie sich an das zögernde Gefühl, das Sie zu Beginn der Corona-Krise hatten als Sie jemandem die Hand geben wollten und sich unsicher waren ob das wirklich klug ist? Das war ihr Gehirn, das sich nicht entscheiden konnte wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Infektion tatsächlich ist. Und Zahlen wie etwa die Basisreproduktionsrate nützen Ihnen in dem Moment, in dem Sie die Hand eines Kollegen oder einer Kundin schütteln wollen, auch nichts. Denn Sie wissen ja nicht ob dieser Mensch bereits infiziert ist oder ob Sie zu den 3.28 Personen gehören die im Mittelwert von einer infizierten Person angesteckt werden. Ohne diese zweite Antwort können Sie aber die dritte Frage nicht beantworten und dann kann Ihnen ihr Gehirn auch nicht sagen ob Sie mit der Situation gut und sicher umgehen können. Wenn ihr Gehirn aber nicht weiß, wie es mit einer Gefahr umgehen soll, ist die Antwort auf diese Gefahr so gut wie immer: Angst.

Was uns Angst zu sagen hat

Einer der häufigsten Sätze die ich höre, wenn ich über Angst in konkreten Situationen, etwa bei Rettungsdienstkräften rede, ist der Folgende: “Ich hab‘ da keine Angst vor, eher Respekt.” Deswegen lassen Sie uns kurz klären, was ich meine wenn ich von Angst spreche. Vor allem meine ich damit die gesamte Bandbreite angstbezogener Emotionen, von milder Sorge über “Respekt vor der Situation” bis hin zu panischer Furcht. Ganz egal wo Sie sich individuell auf diesem Spektrum befinden – und das kann sich von Situation zu Situation oder sogar innerhalb einer Situation verändern –, der Prozess den wir hier betrachten ist bei allen Menschen gleich.

Was also will uns Angst sagen? Im Grunde berichtet Ihr Gehirn Ihnen zwei wichtige Informationen über die Situation, in der Sie sich gerade befinden:

  1. Hier droht beträchtliche Gefahr.
  2. Ich hab‘ keinen guten Plan, wie ich mit dieser Gefahr umgehen soll.

Es ist also nicht das Coronavirus an sich, das uns Angst und Sorgen macht, es ist das Gefühl, nicht zu wissen was wir tun sollen um diese Situation zu bewältigen.

Und wenn Sie sich in den letzten Wochen umgesehen haben, werden Sie jede Menge Verhalten bei ihren Mitmenschen finden, welche schlussendlich der Bewältigung eben dieser Angst dient. Einige davon sind ganz nützlich und funktional, wie etwa intuitiv etwas mehr Abstand zu halten oder sich öfters die Hände zu desinfizieren. Andere sind weniger nützlich aber weitestgehend schadfrei, wie Unmengen an Toilettenpapier zu horten. Und noch andere sind tatsächlich sogar gefährlich, wie etwa jene Menschen die sich gegen das Gefühl von Angst und Ungewissheit stemmen, indem sie sich absichtlich nicht an Hygieneregeln oder Einschränkungen halten. Auch solche Verhaltensweisen dienen schlussendlich der individuellen Angstbewältigung. Wenn man schon keinen Einfluss auf die Situation hat, dann hat man so wenigstens Kontrolle über die eigene Reaktion. Aber welche Möglichkeiten des sinnvollen Umgangs mit Angst haben wir? Ich möchte Ihnen drei gut bewährte und typisch menschliche Strategien aufzeigen, die wir alle im Alltag ständig benutzen und von denen ich denke, dass wir uns aktuell einmal besonders aktiv daran erinnern sollten.

  1. Sozialisieren der Angst – Wir Menschen sind eines der sozialsten Lebewesen, die es in der Natur gibt. Wir sind extrem gut darin, Probleme in Gruppen, Teams, Familien, Cliquen und Internetforen gemeinsam zu lösen. Soziale Unterstützung, Gemeinschaftlichkeit und gegenseitige Ermutigung sind – auch auf Distanz – unser wichtigstes Werkzeug, um die Coronakrise zu bewältigen.
  2. Wissen gegen Angst – Wissen bedeutet bei Angst vor allem, zu lernen, dass der Angstauslöser gar nicht so übermächtig ist wie er scheint, sondern dass es sich dabei um ein schwieriges aber eben auch lösbares Problem handelt.
  3. Regulieren der Angst – Emotionen können nicht weggemacht werden, aber es ist sehr gut möglich, sie aktiv zu verändern und konstruktiv zu beeinflussen. Wir tun das ständig mit uns selbst und anderen Menschen. Wenn wir traurig sind werden wir getröstet, wenn jemand verärgert ist versuchen wir uns zu beruhigen. Mutige Menschen sind nicht solche mit weniger Angst, es sind solche die ihre Angst gut regulieren und deswegen handlungsfähig bleiben.

Angst reduzieren in fünf Schritten 

Nutzen Sie diese kurze Liste entweder als Ideenquelle, was Sie heute und in der nahen Zukunft tun können oder einfach als Erinnerungshilfe, wenn Sie gerade den Eindruck haben, nicht mehr weiter zu wissen.

1. Schritt Eins – Teilen Sie ihre Angst mit anderen

Sprechen Sie mit den Menschen denen Sie vertrauen über ihre Sorgen und Ängste in der aktuellen Situation. Wie gesagt sind wir Menschen extrem soziale Lebewesen und zu sehen, dass es den anderen um uns herum ähnlich geht beruhigt uns und zeigt uns, dass unsere Einschätzung der Situation weder absurd noch auf eine Fehleinschätzung zurückzuführen ist.

2. Schritt Zwei – Werden Sie sozial aktiv

Suchen Sie sich Aktivitäten mit denen Sie in ihrem Umfeld einen positiven Beitrag, zur Bewältigung der aktuellen Lage leisten. Gehen Sie für die ältere Person in ihrem Haus mit einkaufen, erklären Sie anderen Menschen wie gute Händedesinfektion funktioniert oder schreiben Sie eine Liste der 10 besten Kinderspiele für die Quarantäne in ihrer Facebookgruppe. Positive Aktivitäten helfen gegen die eigenen Ängste, weil sie konkret etwas zur Verbesserung der Situation beitragen und sie helfen anderen Menschen dabei, deren Ängste durch soziale Unterstützung zu reduzieren.

3. Schritt Drei – Informieren Sie sich

Qualitative hochwertige Informationen, in dosierten Mengen, hilft ein gutes Stück weit, um Angst ab- und Handlungsfähigkeit wieder aufzubauen. Beginnen Sie ihre Informationssuche dabei bitte immer mit einer konkreten und für Sie nützlichen Frage, etwa “Was bedeuten Ausgehbeschränkungen für mich und meine Familie?” oder “Was genau ist ein Virus eigentlich?”. Informationen sind nämlich ein bisschen wie ein starkes Medikament. Zu wenig nützt Ihnen nichts, zu viel vergiftet Sie. Ohne konkretes Problem sollte man es schon mal gar nicht einnehmen und bitte nur aus der qualifizierten Apotheke und nicht vom Typen an der Ecke beziehen.

4. Schritt Vier – Aktivieren Sie positive Werte

Angst führt häufig zu Vermeidung und damit leider auch zur Ignoranz tatsächlicher Gefahren. Wir alle tun das gelegentlich, weil wir so den Eindruck haben, der Angst und den damit verbundenen unangenehmen Gefühlen aus dem Weg gehen zu können. Das ist verständlich, aber eben selten wirklich nützlich. Zielführender ist es deswegen nicht zu versuchen die Angst zu meiden oder auszulöschen, sondern diejenigen Werte und Persönlichkeitseigenschaften zu aktivieren, die Ihnen wichtig sind und die es Ihnen ermöglichen auch in anstrengenden Zeiten zu bestehen. Waschen Sie sich die Hände nicht, weil Sie Angst vor dem Coronavirus haben, sondern weil Ihnen die Gesundheit ihrer Familie und ihrer Mitmenschen wichtig ist. Bleiben Sie nicht zu Hause, weil Sie Angst vor Infektion oder Strafe haben, sondern weil es Ihnen wichtig ist, dass Ihre Gemeinde diese Krise schnell überwindet. Die Psychologie nennt diese beiden Arten von Zielen Annäherungs- und Vermeidungsziele. Erstere motivieren Sie und geben Ihnen Kraft auch in herausfordernden Zeiten, letztere sorgen langfristig dafür, dass Sie überall nur noch mehr Gründe entdecken, Angst zu haben und sich Sorgen zu machen.

5. Schritt Fünf – Lachen Sie!

Humor und Lachen nehmen jeder Angst den Stachel. Suchen und sehen Sie auch in der laufenden Krise das Absurde, das Komische, das Lächerliche. Die Psychologie dahinter ist simpel. Um über etwas zu lachen, müssen wir es mental umdeuten und aus etwas Mächtigem und Bedrohlichem etwas Lustiges und Komisches machen. Situationen über die Sie lachen können, sind Situationen in denen Sie die Bedeutung der Situation festlegen und verändern können. Achten Sie bitte nur darauf, dass Sie ihren Spaß nicht auf Kosten anderer haben. Lachen Sie über Corona, darüber, dass die Pizzalieferanten und Netflix vermutlich gerade das Geschäft ihres Lebens machen, lachen Sie über sich selbst, aber lachen Sie bitte nicht über die Menschen, die es aktuell hart trifft oder noch treffen wird.

Bleiben Sie zuversichtlich

Wir alle machen gerade eine herausfordernde Zeit durch und im Großen und Ganzen schlagen wir uns gut. Es ist deswegen bei aller Bereitschaft, die notwendigen Einschränkungen in Kauf zu nehmen, auch völlig in Ordnung, sich mal selbst auf die Schulter zu klopfen, zu loben und sich mit etwas Schönem, Gutem und Entspannendem zu belohnen. Lenken Sie sich mit einem lustigen Film oder einem (einsamen!) Waldspaziergang ab. Reden Sie mit ihren Mitmenschen auch über andere Dinge als die Epidemie und vielleicht können Sie die “Zwangsfreizeit” ja dazu nutzen, ein paar Bücher zu lesen, die ohnehin im Regal lagen oder das Videospiel auszuprobieren, mit dem Ihre Kinder Ihnen schon seit langem in den Ohren liegen.

Alles Gute – Bleiben Sie gesund...