Birgit
// Birgit arbeitet als Pflegehelferin in der ambulanten Pflege im Diakoniezentrum Bethesda Eisenberg.
Im Auto duftet es nach frischem Apfelkuchen. Birgit überfliegt nochmal den Handzettel mit den Namen und Adressen ihrer Patientinnen und Patienten, dann wirft sie den Motor an. Von der Sozialstation des Diakoniezentrums Bethesda in Eisenberg startet sie in den Frühdienst. Gestern hatte sie frei und konnte endlich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Wenn Birgit den Kuchenteig anrührt, den Quark-Pudding vorbereitet und das Obst schneidet, kommt sie zur Ruhe, kann in sich gehen und entspannen. Im großen Ofen geht der Kuchen auf, wird langsam goldbraun. Wenn er fertig ist, wird Birgit mit ihrer Familie beim Kaffee zusammensitzen, man wird plaudern und die gemeinsame Zeit genießen. Die Familie ist für Birgit immer schon ein Anker gewesen, besonders in schweren Zeiten.
Birgit ist Anfang 20 als ihre Mutter für eine OP ins Krankenhaus kommt. Niemand rechnet damit, dass etwas schiefgehen kann. Doch es geht schief. Die Mutter kehrt nicht mehr nach Hause zurück. Für die junge Frau bricht eine Welt zusammen. Sie ist das Nesthäkchen der Familie, steht der Mutter sehr nah. Ihr Vater und die drei großen Brüder sind für sie da. Man spendet sich gegenseitig Trost, hält zusammen. 35 Jahre ist das jetzt her. Die Geschwister haben bis heute ein enges Verhältnis, sind füreinander da, besuchen sich, wann immer es geht.
Birgit liebt es, für die Familie zu backen. Mal ist es einer der Brüder, der zum Kaffee kommt, mal ihr Sohn mit der zukünftigen Schwiegertochter. Der Apfelkuchen auf dem Beifahrersitzt ist jedoch nicht für die Familie bestimmt. Als Pflegehelferin in der ambulanten Pflege unterstützt Birgit ihre Patientinnen und Patienten zuhause. Für viele ist ihr Besuch ein fester Bestandteil des Alltags, denn Birgit begleitet sie über Monate, oft auch über Jahre hinweg. Sie ist die gute Fee, die Frühstück oder Abendbrot zubereitet, den Blutdruck misst, bei der täglichen Körperpflege zur Hand geht. Und die hin und wieder ein köstliches Stück Kuchen dabeihat, um ihnen den Tag zu versüßen.
Birgit parkt den Wagen vor dem Haus und nimmt den Apfelkuchen vom Beifahrersitz. Saftiger Hefeteig mit Apfelstücken und Streuseln oben drauf. Die Patientin freut sich riesig über die Kostprobe. Früher hat sie selbst leidenschaftlich gern gebacken. Manchmal tauschen sie und Birgit Rezepte aus. Es gibt immer was zu reden, auch wenn Birgit die Uhr im Blick behalten muss. Denn es gibt ja noch andere, die auf sie warten, sich auf sie freuen. Bis elf Uhr wird Birgit von Wohnung zu Wohnung fahren, Frühstück zubereiten, ihren Patientinnen und Patienten die Haare waschen, ihnen zuhören. Sie hat immer ein offenes Ohr, auch für die Angehörigen, gibt Tipps, tröstet und hilft, wo sie kann.
Seit zehn Jahren arbeitet Birgit als Pflegehelferin. Vom ersten Tag an hat sie gewusst, dass das genau der Job ist, den sie immer schon machen wollte. Auch, wenn sie erst spät in den Beruf eingestiegen ist.
Es ist 1981. Birgit ist 16 und macht eine Ausbildung zur Klavierbauerin. Danach fängt sie bei einem Möbelwerk an, arbeitet viele Jahre am Fließband. Sie ist lange Schichten und Überstunden gewohnt. Trotzdem macht der Beruf ihr Spaß. Die Wende kommt plötzlich und bringt Veränderungen mit sich. Das Möbelwerk wird umstrukturiert, existiert noch einige Jahre als Westbetrieb. Birgit bleibt Produktionsarbeiterin, bis das Werk schließlich Insolvenz anmelden muss. Doch es soll nicht das Ende ihrer beruflichen Laufbahn sein.
Zuhause pflegt Birgit ihre kranke Schwiegermutter. Ihre eigene Mutter hat sie früh verloren. Mit der Mutter ihres Mannes hat sie ein gutes Verhältnis, sie stehen sich nahe, leben sogar im selben Haus. Als die Kinder klein waren, hat die Oma sich viel gekümmert, damit Birgit arbeiten gehen konnte. Jetzt ist es Birgit, die sich kümmert. Und sie merkt, wie erfüllend es sein kann, einem anderen Menschen beizustehen. Zu dieser Zeit fasst sie den Entschluss, den Pflegeberuf zu ergreifen. Eine Entscheidung, über die Birgit bis heute froh ist. Und manchmal nimmt diese Freude die Form eines köstlichen Kuchens an, den Birgit für ihre Patientinnen und Patienten dabeihat.
Es ist Pfingsten. Der ganze Ort hat sich um die große Fichte versammelt. Bunte Bänder wehen von den Ästen, um den langen Stamm stehen die Burschen bereit. Mit purer Muskelkraft werden sie den Baum in die Senkrechte hieven. Hier im Holzland hat das Maibaumsetzen Tradition.
Für das Fest hat Birgit einen LPG-Kuchen gemacht, wie man ihn in ihrer Kindheit in der DDR gegessen hat. Sie holte das alte Rezeptbüchlein hervor, entzifferte die Handschrift ihrer Mutter: Heller Boden, Buttercreme, Kekse, die in Schnaps getaucht werden, darüber cremiger Schokoguss. Wenn Birgit das Büchlein zur Hand nimmt und darin blättert, fühlt sie sich ihrer Mutter besonders nah.
Das Backen hat in Birgits Familie Tradition. Darum kommt der Kuchen auch nicht in den herkömmlichen Backofen in der Küche. Im Garten hat ihr Mann einen großen Ofen aus Schamottstein gebaut. Einen, wie ihn der Bäcker früher zum Brotbacken nutzte.
Seitdem steigt regelmäßig Rauch aus dem kleinen Schornstein in die Höhe. Oft arbeitet Birgit im geteilten Dienst, ist am Vormittag und dann nochmal am frühen Abend unterwegs. Als Springerin ist sie auch schon mal kurzfristig im Einsatz. Sie ist gern zur Stelle, wenn sie gebraucht wird. Zuhause übernimmt dann ihr Mann, backt frisches Brot und Pizza für die ganze Familie. Man unterstützt sich, man hält zusammen. Zu besonderen Anlässen zaubert Birgit Leckereien, über die alle staunen. Für die Einschulung ihres Großneffen macht sie eine Fußballtorte, beim Kindergeburtstag klettert Spiderman über den Zuckerguss.
In dem alten Büchlein der Mutter mit den handgeschriebenen Seiten liegen viele Zettel mit neuen Rezepten, die Birgit über die Jahre gesammelt hat. Das Leben geht weiter, und wenn Birgit backt, ist es so süß wie Apfelkuchen, Mandarinentorte oder gelber Bienenstich.