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27.10.2023 | Landesgeschäftsstelle Hannover (Verwaltung)

Hausnotruf – Geschichten aus dem Hintergrund

In der knapp 7.000 Einwohner starken Gemeinde Berne im Landkreis Wesermarsch (Niedersachsen) laufen alle Notrufeinsätze der fast 49.000 Hausnotrufkunden der Johanniter-Unfall-Hilfe aus ganz Niedersachsen und Bremen auf.

„Uns erreichen täglich circa 1.100 bis 1.500 Notrufeingänge“, sagt Teamleiter Marco Fürst, auch wenn darunter etwas mehr als die Hälfte Probe- und Fehlalarme durch Techniker oder der Kundschaft sind. „Trotzdem werden natürlich alle Rufe angenommen oder mit einem Rückruf überprüft“, unterstreicht er.

Neben den ernsthaften Notfällen möchte sich manchmal ein Mensch vergewissern, dass wirklich jemand zu erreichen ist, wenn er den Hausnotruf drückt. Gelegentlich geht es auch um einen schlichten, kurzen zwischenmenschlichen Kontakt. Ein Dreischichtsystem für die Mitarbeitenden in der Einsatzzentrale garantiert dabei die 24-Stunden-Erreichbarkeit an 365 Tagen pro Jahr. Die Schicht beginnt mit einer kurzen Übergabe, bei der Details über noch laufende Vorgänge oder besondere, heikle Ereignisse unter den Mitarbeitenden ausgetauscht werden.

Die Schichtstärke der Einsatzkräfte in der Hausnotrufzentrale wird abhängig zur Tageskurve der Anrufe oder Alarmmeldungen besetzt, wie der stellvertretende Teamleiter Henning Baum erläutert: „Es gibt viele Erfahrungen zum Rufaufkommen. Einen Peak erleben wir häufig zwischen 10 und 12 Uhr, wenn unsere Kunden in den Tag gestartet sind oder der ambulante Pflegedienst wieder gefahren ist. Einen zweiten Peak gibt es oft zwischen 16 und 18 Uhr, da die Arztpraxen dann schließen und sich viele Sorgen machen, ob sie die Nacht gut überstehen.“

Das Team dieser Hausnotrufzentrale umfasst aussschließlich ausgebildete Rettungs- und Pflegefachkräfte, die über verschiedene Wege zu den Johannitern und an diesen besonderen Arbeitsplatz gekommen sind. Und trotz all ihrer Routine und Erfahrung ist die Begleitung der Menschen am Telefon eine besonders emotionale Aufgabe – durchschnittlich müssen in der Woche ein bis zwei Reanimationen (Wiederbelebungen) am Telefon durchgeführt werden. Parallel wird der örtliche Rettungsdienst alarmiert. „Ich bin dann sehr konzentriert und angespannt, also wie im Tunnel“, beschreibt Nancy van der Meulen die Situation. „Wenn wir Angehörige oder Nachbarn bei einer Reanimation anleiten, muss alles stimmen. Wir müssen die Menschen durch unsere Ansprache einfangen und mithilfe einer strukturierten Abfrage zu den nötigen Schritten ermutigen.“

‚Die strukturierte Abfrage‘ – dazu gehören die Überprüfung von Puls, Atmung, Kreislauf und Ansprechbarkeit bis hin zur Durchführung der Herzdruckmassage. Manchmal jedoch kommt jede Hilfe zu spät: „Bei einem über 90-jährigen Ehepaar weit draußen auf dem Land saß die Frau bewusstlos im Elektrorollstuhl, und ihr Mann konnte sie gar nicht bewegen, geschweige denn eine Reanimation durchführen“, erzählt Nancy van der Meulen bewegt. „Dann versucht man, die Menschen am Telefon zu halten und zu begleiten, bis der Rettungsdienst kommt. Aber wenn man dann jemanden verliert, ist das etwas anderes als eine Verstorbene auf Station“, erläutert die ehemalige Krankenschwester. Freud und Leid liegen in der Einsatzzentrale sehr dicht beieinander. Die alte Dame konnte nicht gerettet werden.

Eine geradezu tragikomische Geschichte aber ist Heike Hüne widerfahren: „Der Anruf kam von der Tochter, ein Nachbar war auch vor Ort und die Mutter lag bewusstlos im Zimmer. Wir sind also gemeinsam die Einleitung zur Reanimation durchgegangen, parallel wurde die 112 verständigt. Wir sprechen mit den Beteiligten dann immer laut zusammen den Takt der Herzdruckmassage, also zählten wir zu dritt immer 1-1-1-1. Und plötzlich höre ich eine weitere Stimme und frage nach, wer da jetzt noch zählt. Es war dann tatsächlich die Mutter, die offenbar doch nur ohnmächtig gewesen ist. Die Reanimation konnten wir also glücklicherweise sofort beenden“, berichtet die Pflegefachkraft.

Erik Westphal hat in einer seiner Nachtschichten einen wahren Krimi erlebt. Den 37-Jährigen erreichte ein Notruf mit sehr schlechter Tonqualität, der Name war nicht zu verstehen, nur im Hintergrund waren laute Stimmen und Geräusche zu hören. Es klang wie ein Einbruch, daher wurde parallel die Polizei über den Vorfall und die Adresse des Kunden informiert. Ein Tatort war es dann auch, aber nur im beliebten ARD-Sonntagabend-Format. „Absurderweise deckten sich die Antworten auf meine Fragen ‚Wie geht es Ihnen‘ oder ‚Sind Sie verletzt?‘ einige Momente komplett mit der Szene im Fernsehen. Aber dann wurde es doch merkwürdig“, erinnert sich der Rettungssanitäter. Letztendlich war es ein versehentlicher

Notrufauslöser des Kunden, der sich aber dennoch über die Nachfrage freute, ob bei ihm so weit alles in Ordnung sei.

Um diese Ernsthaftigkeit gehe es letztendlich immer, wie Henning Baum unterstreicht: „Wenn Menschen keine Angehörigen oder Freunde mehr haben, sind wir oft das letzte Glied der Kette. Und manchmal liegt der Hausnotruf da näher als die 112. Die Geschichte des Kunden hat also Vorrang, seine Gesundheit oder Genesung stehen im Vordergrund.“

Und das gilt auch für die vielen kleinen Missverständnisse und Alltagsgeschichten, die das Team erlebt. Da berichtete eine Kundin von ihrem Krampfanfall, und der Rettungsdienst wurde verständigt. Tatsächlich handelte es sich nur um einen Wadenkrampf. Manchmal freuen sich die Kundinnen oder Kunden auch darüber, dass Anita oder Juanita anruft, wenn sich die „Johanniter“ melden. Oder die Zentrale erinnert ihre Einsatzkräfte vor Ort daran, dass der frei fliegende Papagei einer Kundin extrem aggressiv auf das Farbspektrum Rot reagiert – die Farbe der Johanniter-Einsatzkleidung.

Bei dieser gelegentlichen Achterbahn der Gefühle ist das Team entsprechend wichtig für die Unterstützung und den Austausch untereinander. Teamleiter Marco Fürst: „Das Team fängt viele Situationen auf, es gilt das Motto ‚Sprich mit uns‘. Da gibt es dann schon die Möglichkeit, mal durchzuatmen oder den Platz zu verlassen. Die Reflexion mit den Vorgesetzten und den Kolleginnen und Kollegen kann enorm helfen, das gilt auch für unsere Einsatzfahrer. Oft sind es ja auch junge Menschen, zum Beispiel im FSJ, die zum ersten Mal einen Ernstfall erleben. Alle können bei Bedarf auch die Teams der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) im Landesverband ansprechen.“

Im besten Fall geht es für beide Seiten gut aus: „Man kann den Tag oder das Ereignis mit der Rückmeldung aus dem Team abschließen, und die schwierigeren Erlebnisse muss man nicht mit nach Hause nehmen“, erläutert Nancy van der Meulen, und ihre Kollegin Fenja Utermöhlen ergänzt: „Es ist darüber hinaus immer schön, wenn man helfen konnte. Manche Kunden drücken den Knopf dann, um noch einmal mit uns zu sprechen und sich für die Betreuung zu bedanken.“

Ihren Service ergänzen die Johanniter mit ihrem Hausnotruf-Kundenmagazin „JO!“. Dreimal im Jahr finden ihre Kundinnen und Kunden hier nicht nur Aktuelles zum eigentlichen Angebot, sondern darüber hinaus ein vielseitiges Themenspektrum mit Tipps, Ideen und Unterstützung für ein möglichst selbstständiges Leben im Alter. Die Ausgaben des Kundenmagazins „JO!“ finden Sie unter dem Link: https://www.johanniter.de/juh/lv-ndsbr/medienservice/publikationen