Julian

// Julian arbeitet als Pflegefachmann und Hygienebeauftragter im Johanniterhaus Nebra.
Es gibt Momente im Leben, die wie eine Weggabelung sind. Man setzt den Blinker. Rechts oder Links. Und hofft, dass man die richtige Entscheidung getroffen hat.⠀
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Julian öffnet die Garage, schiebt den Simson S50 auf die Straße. Die Sonne scheint, die Felgen glitzern im Sonnenlicht. Lina-Lotta wartet schon, sie hat ihren Helm aufgesetzt, freut sich auf die Tour. Sie ist schon 8, muss nicht mehr wie ihre kleine Schwester zwischen Julians Beinen sitzen. Wie eine Große steigt sie hinten auf, legt die Arme um Papas Bauch. Julian wirft den Motor des DDR-Oldtimers an, dann drehen die beiden eine Runde durch Querfurt. Der Fahrtwind kitzelt ihre Nasen, Julian gibt ein bisschen Gas und freut sich, dass Lina-Lotta ihren Spaß hat.⠀
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Als Kind liebt Julian es über alles, auf der Simson seines Vaters zu sitzen, über die Feldwege zu düsen. Mit 16 übernimmt er selbst das Steuer, fährt jetzt ein 125er Motorrad. Mobil zu sein bedeutet für ihn Freiheit. Er kann mit seinen Kumpels Touren machen, sich mit anderen Jugendlichen treffen. Auch nach der Schule ist ein fahrbarer Untersatz Gold wert. Julian will ein Handwerk lernen. Er beginnt eine Lehre als Maurer, jeden Morgen schwingt er sich auf sein Motorrad, steht den ganzen Tag bei Wind und Wetter auf der Baustelle. Ein rauer Männerjob, Julian aber hält durch, besteht nach drei Jahren die Prüfung zum Maurergesellen.⠀
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Doch bald wird ihm klar, was ihn erwartet. Immer öfter muss der Betrieb auch außerorts Aufträge annehmen. Für Julian bedeutet das: viel unterwegs sein, weit weg von Zuhause, von seinen Freunden und von seiner Freundin Denise. Die beiden sind jung und verliebt, wollen irgendwann eine Familie gründen. Als Julian klein ist, fährt sein eigener Vater viele Jahre lang auf Montage, kommt nur am Wochenende nach Hause. Das kommt für Julian nicht in Frage.⠀
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Es gibt Momente im Leben, die wie eine Weggabelung sind. Manchmal ist da ein Schild, das einem den Weg weist. Und manchmal ein Mensch, der mit einer zündenden Idee um die Ecke kommt.⠀

Jemand, der das nicht erlebt hat, weiß nicht, was für ein Gefühl das ist. Es ist so groß, dass es sich kaum in Worte fassen lässt. Lina-Lotta. Als Julian das kleine Bündel im Arm hält, weiß er, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat.⠀
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Denise und Julian lernen sich bei einem der Motorrad-Treffen kennen, bei denen die Jugendlichen aus dem Umland zusammenkommen, um zu feiern. Julian macht noch seine Lehre zum Maurer, Denise eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Kurz nachdem er seinen Gesellenbrief in den Händen hält, flattert ein ganz anderes Schreiben in Julians Briefkasten. Er wird zum Wehrdienst einberufen. Doch Julian möchte nicht weg von Zuhause. Er entscheidet sich für den Zivildienst. „Warum versuchst du es nicht in der Pflege?“ schlägt Denise vor. Im Johanniterhaus Nebra ist gerade eine Stelle frei. Julian weiß nicht, ob das wirklich etwas für ihn ist. Doch er gibt der Sache eine Chance.⠀
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Über 15 Jahre sind seitdem vergangen. Heute ist Julian Wohnbereichsleiter in der Einrichtung, in der er damals als Zivi seinen Dienst angetreten hat. Als junger Mann tastet er sich langsam an die Aufgaben heran. Und er merkt schnell, dass der Job ihm Spaß macht. Hier muss er nicht in Regenmontur auf der Baustelle stehen und außerorts in fremden Betten übernachten. Julian hat einen guten Draht zu seiner Vorgesetzten. Als der Zivildienst ausläuft, bekommt er einen Ausbildungsplatz angeboten. Alles auf Anfang, noch einmal 3 Jahre lernen. Julian muss sich entscheiden. Und er wagt den Neustart.⠀
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Julian lässt den Motor der himmelblauen Simson aufbrummen. Hinter ihm sitzt Lina-Lotta, hält sich mit beiden Armen an ihm fest, gluckst vor Freude. Sie hat einen Papa, der immer für sie da ist. Jemand, der das nicht erlebt hat, weiß nicht, was für ein Gefühl das ist. Julian weiß es. Und er ist froh, dass er damals die richtige Abzweigung genommen hat.

Es ist 6 Uhr früh, die Mädchen schlafen noch friedlich in ihren Betten. Wenn Julian Frühschicht hat, steht er als erster auf. Heute wird Denise die Kinder für Kita und Schule fertigmachen und etwas später zur Arbeit fahren. Am Nachmittag ist es dann Julian, der die Mädchen abholt, mit Lina-Lotta Hausaufgaben macht, sich ums Abendessen kümmert. Am Wochenende unternehmen sie was zusammen, gehen gemeinsam ins Schwimmbad. Oder sie machen eine Tour mit der Simson, düsen durchs Umland und lassen sich vom Fahrtwind die Nasen kitzeln.⠀
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Drei Jahre zuvor. Julian ist jetzt zweifacher Papa. Mit der kleinen Pia-Charlott ist das Familienglück perfekt. Seine alte Leidenschaft für Motorräder jedoch ist den Herausforderungen des Alltags gewichen. Die alte Simson des Vaters ist längst vergessen, als ein Kumpel mit einem restaurierten DDR-Oldtimer bei ihm aufschlägt. Als Julian auf das Moped steigt, lodert die Flamme wieder auf. Von seinem Schwiegervater bekommt er eine alte S50, macht sich sofort ans Werk. Mit der Hilfe seines Kumpels zerlegt er das Moped in seine Einzelteile, regeneriert den Motor, beschafft neue Felgen und Reifen. Bald erstrahlt die Simson in neuem, himmelblauem Glanz.⠀
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Es ist ein gutes Gefühl, etwas mit den eigenen Händen zu neuem Leben zu erwecken. Zuhause werkelt Julian gern herum, es macht ihm Spaß, handwerklich zu arbeiten. Als Wohnbereichsleiter hat Julian heute viele administrative Aufgaben. Er leitet ein Team von zehn Pflegekräften, ist für Dienstpläne, Hygienevorschriften und die Strukturierung des Wohnbereichs zuständig. Tagtäglich sorgt er dafür, dass auch unter den Mitarbeiterinnen alles glatt läuft. Die meisten Pflegekräfte hier sind Frauen. Doch allein unter Frauen zu sein ist Julian ja schon von zu Hause gewohnt. Als er noch als Maurerlehrling auf der Baustelle stand, hätte er sich das wohl nicht träumen lassen.⠀
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Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß, wohin er geht, heißt es. Und wenn Julian mit seinen Mädchen eine Runde auf der alten S50 dreht, wird der Weg auch schon mal zum Ziel.