28.06.2021 | Dienststelle Ortsverband Landesbergen

Insea Hohlt-Sahm: „Ich bin immer noch neugierig auf das Leben.“

Die Weltenbummlerin (94) erfreut sich an jedem guten Tag und geht keinem Streit aus dem Weg.

Natürlich hat Insea Hohlt-Sahm Tee aufgesetzt und den Tisch gedeckt, es kommt schließlich Besuch. Zwar hat die Sehkraft der alten Dame so abgenommen, dass die 94-Jährige kaum noch sehen kann. Aber wo die Zutaten in der Küche sind und wo das Porzellan steht, weiß sie genau. Jeder Griff sitzt.

So wie jedes Wort aus ihrem Mund. Schnell, klar und mitunter spitz sind ihre Kommentare und Geschichten. Sie kann viel erzählen, das Leben hielt eine Menge Aufregung für sie bereit. Und selbst im hohen Alter reißt es nicht ab. Gerade erst passierte folgendes: In wenigen Wochen hätte Insea Hohlt-Sahm nach mehr als zwanzig Jahren in Nienburg eigentlich in eine Pflegeeinrichtung nach Hannover ziehen wollen. Einer ihrer Wünsche war ein Bidet im Badezimmer, das ließ sich baulich aber nicht umsetzen. „Mit 94 Jahren und nach vier Kindern, da braucht man ein Bidet“, sagt sie entschieden. Und nun? „Ich habe abgesagt, dann bleibe ich eben hier.“

Sie muss zu Hause kaum Stufen steigen, einige Möbel und viele ihrer selbst gemalten Bilder sind verschenkt. Hilfe bekommt sie vor allem von einem ihrer Söhne und einer Haushaltskraft. Der Hausnotruf der Johanniter sichert sie für Notfälle ab. So wie Anfang dieses Jahres. Da hatte sie nach ihrer Covid-19-Impfung einen Schwächeanfall und stürzte in der Küche. „Ich habe noch versucht, mich selbst am Tischbein hochzuziehen“, sagt sie. Dabei fiel ihr ein, dass sie die Hilfe an einer Kette um den Hals trägt. Ein Knopfdruck, ein kurzes Gespräch über die Telefon-Freisprechanlage, wenig später war ein junger Mann da. Er half ihr auf, untersuchte sie auf Verletzungen und besorgte dann auf ihren Wunsch hin ein Eis, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.

Seitdem hat Insea Hohlt-Sahm den Hausnotruf nicht wieder gebraucht. Sie ist es aber auch gewohnt, sich selbst zu helfen. Mit neun Jahren erkrankte sie an Diphterie. Die Familie kam zum Abschiednehmen und brachte – das war ihr letzter Wunsch – eine Zitrone mit. „Die habe ich gegessen, danach ging es mir besser. Das war mein erstes Glück“, sagt sie.

Das nächste Glück war ihr Überleben des Zweiten Weltkrieges. Die beiden großen Brüder fielen, Insea Hohlt-Sahm leistete Schwerstarbeit in der Landwirtschaft und im Stift Obernkirchen. Sie erlebte Bombennächte in Köln und Langenhagen, verzweifelte Flüchtlingsschicksale in Magdeburg, Gräueltaten der Nationalsozialisten… „Der Krieg war eine Wahnsinnszeit“, sagt sie im Rückblick, „danach hatte jeder sein Päckchen zu tragen. Es war grauenvoll.“

Kurz nach dem Krieg lernte sie im Rheinland ihren Mann Ulrich Sahm kennen. Mit dem Juristen im diplomatischen Dienst zog sie fortan durch Europa. Mit Pausen in Bonn lebten sie erst in London, dann in Paris, vier Jahre in Moskau bis es über Ankara schließlich wieder zurück nach Bonn ging. Die vier eigenen und zwei Pflegekinder waren immer mit dabei. „Eine aufregende Zeit war das“, erinnert sie sich. Die Jahre in den fremden Ländern und die Menschen dort haben sie geprägt und zu einer überzeugten Europäerin gemacht. Direkt nach ihrer Scheidung zog sie weiter nach Rom und wurde, was sie immer hatte sein wollte - Künstlerin. „Das waren meine glücklichsten Jahre“, sagt sie im Rückblick. Sie hatte ein Atelier, arbeitete mit den verschiedensten Materialien, unterrichtete Schüler. Ihre liebsten Werke umgeben sie bis heute.

Mit Anfang 60 kam sie zurück nach Deutschland. Die Familie und Freunde, die medizinische Versorgung... Es gab einige Gründe. Insea Hohlt-Sahm nutzte ihre freie Zeit weiterhin für ihre Leidenschaft und lernte das kunstvolle Sticken. „Das ist wie Malen mit einer Nadel“, sagt sie. Dass ausgerechnet das Augenlicht sie, die Künstlerin mit einem Blick für besondere Bilder, verlässt, macht sie manchmal wütend. Aber telefonieren geht immer noch gut. Sie sucht den Austausch mit ihrer Familie und den ihr lieb gewordenen Menschen.

Die wissen, wo sie auch weiterhin zu finden ist, denn nun bleibt es also – erstmal – bei Nienburg. Unglücklich ist Insea Hohlt-Sahm mit dieser Entscheidung nicht. „Ich habe mit dem lieben Gott gesprochen und gefragt, ob er mich nicht einfach irgendwann überraschend holen kommen kann“, sagt sie. Was hat der liebe Gott denn geantwortet? „Er hat gesagt, er überlegt es sich."

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