"Wir versuchen immer, die Angst zu nehmen"

Im Rettungsdienst ist kein Einsatz wie der andere: Wenn der Melder geht, müssen die Retterinnen und Retter auf alle Situationen vorbereitet sein. Zusätzlich zum medizinischen Fachwissen benötigen sie viel Empathie: Besonders wenn Kinder oder ältere Menschen betroffen sind, müssen die Einsatzkräfte sehr einfühlsam vorgehen, um Ängste zu nehmen. Michelle Wulf ist seit zwei Jahren als Notfallsanitäterin bei uns in Lübeck aktiv. Im Interview berichtet die 24-jährige Stockelsdorferin, wie sie als Retterin mit dem Thema Einsamkeit im Alter umgeht.

Was sind klassische Einsatzsituationen im Rettungsdienst mit älteren Patientinnen und Patienten?

„Klassische Einsätze sind zum Beispiel Stürze in der Häuslichkeit. Gut ist immer, wenn die Patienten einen Hausnotrufknopf haben und so auf sich aufmerksam machen können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Gestürzte länger unbemerkt in der Wohnung liegen, bevor sie gefunden werden.“

Kommt man im Rettungsdienst oft mit einsamen Menschen in Kontakt?

„Ja, man kommt öfter mit einsamen Menschen in Kontakt oder vielmehr sagen die Menschen dann, dass sie zuhause allein nicht mehr zurechtkommen. Aber um wirklich einschätzen zu können, ob die Menschen einsam sind, muss man länger Zeit mit ihnen verbringen. Wir im Rettungsdienst haben da immer nur die Momentaufnahme mit dem Patienten. Aber es kommt durchaus vor, dass uns Patienten sagen, dass sie sich allein fühlen, dass die Kinder weiter weg leben und sich nur telefonisch melden und dass die sozialen Kontakte mit der Familie nur sehr eingeschränkt sind.“

Wie erleben Sie diese Situationen? Sind sie anders als andere Einsätze?

„Anders würde ich die Situationen nicht betiteln. Wir werden im Rettungsdienst immer vor neue Einsatzsituationen gestellt, das macht unsere Arbeit aus. Aber Einsätze mit älteren, einsamen Menschen bringen andere Herausforderungen: Der einsame Mensch hat nicht unbedingt die Indikation, dass wir mit ihm in die Notaufnahme fahren müssen. Manchmal reicht es aus, dass wir mit den Angehörigen oder dem Pflegedienst besprechen, was am besten zu tun ist. Einsamkeit oder eine andere soziale Indikation soll nicht dazu führen, dass ein Patient ins Krankenhaus gebracht wird.“

Können Sie uns ein persönliches Erlebnis schildern?

„Ich war mit einem Kollegen bei einer alten Dame in der Wohnung, die in den vergangenen Tagen bereits mehrfach den Rettungsdienst gerufen hatte. Sie hatte einfach Angst, dass etwas passiert, und ihre Kinder waren leider nicht in der Lage, sie zu versorgen. Zumindest haben sie es nicht richtig ernst genommen, wie verzweifelt ihre Mutter war, deshalb war ihr letzter Ausweg immer, den Notruf abzusetzen. Vor Ort haben wir das mit den Kindern klären können und die Tochter hat ihre Mutter zu sich genommen. Mittlerweile lebt die Dame in einem Pflegeheim und ist gut versorgt.“

Wie schaffen Sie es, Professionalität und Distanz zu wahren, und trotzdem den Menschen die Angst zu nehmen?

„Es wäre schon ziemlich traurig, wenn wir als Notfallsanitäter es nicht schaffen würden, eine Verbindung zu den Menschen aufzubauen. Kommunikation mit dem Patienten ist ein wichtiger Bestandteil unserer Ausbildung. Wir versuchen immer, unseren Patienten die Angst zu nehmen und trotzdem nicht distanzlos zu sein. Natürlich braucht man eine beruflich-professionelle Distanz, das ist klar. Aber wir bringen alle ein großes Stück an sozialer Kompetenz mit, sonst hätten wir uns nicht für diesen Beruf entschieden. Das ist also ganz normal und unterscheidet sich nicht, ob wir mit einsamen, älteren Menschen zu tun haben oder mit dem 19-Jährigen, der sich auf dem Fußballfeld das Sprunggelenk gebrochen hat. Wir versuchen immer, die Angst zu nehmen - und meistens klappt das auch ganz gut.“

Hat sich in den vergangenen Jahren etwas geändert? Sind mehr Menschen von Einsamkeit betroffen?

„Ich bin selber erst fünf Jahre im Rettungsdienst tätig, deshalb kann ich aus eigener Erfahrung keinen Trend festmachen. Aber der wirtschaftliche Druck wird immer mehr. Jeder hat diesen Druck, dass er sich zum Beispiel sein Eigenheim finanzieren will oder einen hohen Lebensstandard hat, also wird viel gearbeitet. Da kann ich es schon nachvollziehen, wenn die erwachsenen Kinder sagen, dass sie ihre Eltern nicht versorgen können, weil sie von Montag bis Freitag und vielleicht sogar noch am Wochenende arbeiten. Das kennt sicher jeder: Da bleibt leider wenig Zeit, mal die Oma zu besuchen.“

Was ist Ihre persönliche Empfehlung gegen Einsamkeit im Alter?

„Es gibt Freizeitangebote für Senioren, zum Beispiel, dass im Pflegeheim Mittwochnachmittags Bingo gespielt oder ein Seniorencafé ausgerichtet wird. Da können sicher auch Leute von außerhalb teilnehmen. Und wir alle können mal die Oma oder die Mutti besuchen, die haben sich schließlich auch für uns aufgeopfert. Da können wir das zurückgeben. Das wäre so mein Tipp an die Jungen. Und die Älteren: Es gibt zum Beispiel die sogenannten ‚Kaffeefahrten‘ oder ähnliche Angebote - das ist nett, weil man mit seiner Altersgruppe gemeinsame Ausflüge machen kann. Das würde ich, glaube ich, später auch machen.“