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01.11.2005 | Johanniterorden Generalsekretariat

Paul Kirchhof Festredner beim Rittertag der Johanniter in Celle

Sein "vierwöchiger Ausflug in die Politik" hat Wunden bei ihm hinterlassen, doch nur am Rande thematisierte Paul Kirchhof in Celle seine Wahlkampf-Erfahrungen.

"Man sollte ein Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb im politischen Wettkampf erlassen", sinnierte der Professor aus Heidelberg in seinem Festvortrag beim Rittertag der Hannoverschen Genossenschaft des Johanniterordens. Für diese Überlegung erhielt er viel Beifall der rund 200 Ritter, die sich am Wochenende mit ihren Familien, den Mitarbeitern der Johanniter-Unfallhilfe und Gästen in der Fachwerkstadt versammelt hatten.

Über die „geplante Fehlinformation” durch den politischen Gegner will das Ex-Mitglied des Kompetenzteams von Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel ein Buch schreiben – „vielleicht in einem halben Jahr, wenn ich Abstand gewonnen habe”. Der Wahlsonntag sei für ihn sehr enttäuschend verlaufen, so Kirchhof weiter: „Die Desinformation der Wähler schlägt auch auf das Demokratieprinzip zurück.”

 

Überhaupt sei sich unsere Gesellschaft ihrer Demokratiefähigkeit nicht mehr so sicher – „und das mit gutem Grund”, sagte Kirchhof beim Festakt in der Alten Exerzierhalle bei seinem Vortrag zum Thema „Wie wehrhaft darf eine Demokratie sein? Die Entchristlichung unserer Gesellschaft”. Die eigentliche Bedrohung des freiheitlichen Systems sei das zunehmende Fehlen der inneren Mitte, der Verlust des inneren Maßhaltens in der Gesellschaft, warnte der Staatsrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter. Und war damit beim Christentum mit seinem Grundsatz, dass jeder Mensch die gleiche Würde besitze.

 

Ein entscheidender Grundsatz, in dem sich der Professor eins wusste mit seinen Zuhörern vom Johanniter-Orden mit seiner fast 1000-jährigen Geschichte. Die christliche Rittergemeinschaft geht zurück auf das Zeitalter der Kreuzzüge, widmete sich aber von Beginn an vor allem dem Dienst an hilfsbedürftigen Mitmenschen.

 

Zunehmend prägten nun aber Argwohn und Misstrauen das Miteinander, analysierte Kirchhof die gesellschaftliche Entwicklung: „Immer häufiger wird nicht mehr der Mitmensch gesehen, sondern der potenzielle Gegner.” Das christliche Ideal und die Wirklichkeit würden zu schroffen Gegensätzen; es zähle die Gewinn-Maximierung. Damit sei die Situation, in der wir jetzt leben, der direkte Gegensatz zum Ausgangspunkt christlichen Denkens – im Paradies gab es weder Eigentum noch Wettbewerb.

 

„Unser Umgang mit dem Staat ist maßlos”, ist die düstere Bilanz des Wissenschaftlers. Die finanzpolitischen Folgen für das Gemeinwesen sind fatal, so der im Wahlkampf als Merkels kommender Finanzminister gehandelte Kirchhof: Den 187 Milliarden Euro, die die Bundesrepublik jährlich an Steuern einnehme, stünden 207 Milliarden an Verbindlichkeiten gegenüber – die Staatsverschuldung wachse also schon ohne staatliche Investitionstätigkeit um 20 Milliarden jährlich – auf ein Gesamtvolumen von derzeit 1,4 Billionen Euro. Kirchhof: „Um deutlich zu machen, wie viel das ist: Wenn wir heute beginnen würden, pro Jahr 100 Milliarden zurückzuzahlen, bräuchten wir 30 Jahre. Das ist das, was wir für unsere Kinder und Enkelkinder angerichtet haben.”

 

Von denen gibt es – wir alle wissen es – mittlerweile viel zu wenige. „Beim Kinderreichtum ist die Bundesrepublik unter den 191 Staaten dieser Erde das ärmste Land. Keine andere Gesellschaft hat ihre eigene Zukunft so vergessen”, kam Kirchhof auch in Celle zu seinem Hauptanliegen, der Familienförderung. „Der Staat kann niemanden dazu zwingen, Kinder in die Welt zu setzen. Also muss der die Bedingungen für Familien verbessern”, verwies der Professor darauf, dass das Durchschnittseinkommen eines Rentner-Haushalts von zwei Personen heute höher sei als das einer jungen Familie.

 

Eine Rückbesinnung sei notwendig: „Diese Gesellschaft ist eine wartende, deshalb brauchen wir eine Vision! Wir brauchen Wahrhaftigkeit von innen, müssen wesentliche Wertmaßstäbe in die Gesellschaft hineinbringen.” Die „Entchristlichung” der Gesellschaft sei indes gestoppt, so Kirchhof mit Verweis auf Beispiele wie den Weltjugendtag: „Wir sind längst wieder auf der Gegenrichtung.”

 

Quelle: Cellesche Zeitung, Klaus M. Frieling