02.06.2023 | Landesgeschäftsstelle Hannover (Verwaltung)

Wenn es um die Seele geht

25 Jahre nach dem ICE Unglück in Eschede – Psychosoziale Notfallversorgung als elementare Stütze für Betroffene und Einsatzkräfte

Wenn in diesen Tagen zum 25-jährigen Gedenken an das tragische Zugunglück von Eschede berichtet wird, stehen die Schicksale zahlreicher Betroffener, ihrer Angehörigen und Freunde aber auch der Helfenden vor Ort im Fokus. Auch für erfahrene Rettungskräfte und ehrenamtlich Unterstützende war diese Katastrophe angesichts der vielen Toten und Verletzten eine immense seelische Belastung. Eschede war in diesem Rahmen eine Zäsur für die Weiterentwicklung der heutigen sogenannten Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) bei der Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH). Bis dato griffen vorrangig die Angebote der Krisenintervention und ihrer Teams (KIT), die allerdings weniger strukturiert und professionalisiert umgesetzt wurden.

Zum ersten Mal wurden nun aber in Deutschland offensichtlich in großem Rahmen eine systematische Notfallseelsorge und Einsatznachbetreuung für Haupt- und Ehrenamtliche nötig. Der Begriff „Psychosoziale Notfallversorgung“ wurde 2008 durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erarbeitet. Heutzutage richtet sich dabei die PSNV-B an betroffene Personen wie Opfer oder Angehörige, die PSNV-E dient der Betreuung der eigenen Einsatz- und Rettungskräfte.

Gerhard Latt war 1998 als ehrenamtlicher Helfer vor Ort in Eschede. Der damals 47-jährige Rettungssanitäter wurde 1966 Mitglied der Johanniter und hatte sich schon in den 70er Jahren für den Ausbau der Begleitung der Einsatzkräfte eingesetzt. Es fehlte damals allerdings noch an weitergehenden Strukturen innerhalb der Hilfsorganisationen. Mittlerweile basiert das Angebot der Johanniter einer umfassenden PSNV für die spezifische Betreuung nach belastenden Einsätzen oder Krisensituationen auf qualitativen Standards.

2016 hat sich Gerhard Latt als Fachberater Psychotraumatologie qualifiziert. Er ist Lehrbeauftragter für Lehrkräfteausbildung und PSNV, Landeskoordinator PSNV für den Landesverband Niedersachen/Bremen sowie als Dozent der Johanniter-Akademie tätig. Seit 2015 gehört er auch dem Landesbeirat PSNV an, der dem Niedersächsischen Innenministerium angegliedert ist und die JUH in Niedersachsen vertritt. „Als die Meldung damals am 3. Juni kam, habe ich mich in meiner Dienststelle in Celle zunächst um die Logistik gekümmert, es musste ja entsprechend viel Gerät und Material organisiert werden. Am Nachmittag bin ich dann mit unserem Dienststellenleiter zum Schadensort gefahren“, berichtet der Celler. „Ich habe mich auch damals schon um Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Belastungen gekümmert, aber in diesem Fall war die psychische Belastung in dieser unbegreiflichen Situation wirklich enorm. Ich habe dann im Rahmen unserer Fürsorge für alle Einsatzkräfte sofort einige Helfer gezielt und mit einem gewissen Vorlauf aus dem Einsatz genommen, denen man ihre Belastungsgrenze schon ansehen konnte. Sie sollten dann mindestens eine längere Pause machen, Abstand gewinnen oder durch andere Kollegen ersetzt werden.“

Sven Heine war einer dieser Kollegen vor Ort. Als damals 26-jähriger ehrenamtlicher Rettungssanitäter begann sein Einsatz am Vormittag - nach dem Abtransport aller Verletzten und vor der Bergung der Verstorbenen. „Es war ein furchtbares Chaos damals, man fühlte eine so große Hilflosigkeit. Doch die Arbeit fängt dann an, man sammelt seine Gedanken und funktioniert.“ Seine Erinnerungen bewegen ihn bis heute, er weiß, wie wichtig eine sorgfältige Betreuung und Aufarbeitung der Erlebnisse sind. „Damals gab es keine strukturierte PSNV, aber zumindest eine Intervention auf der Wache, die beim Austausch und zur Aufarbeitung half. Mit vielen Kollegen und insbesondere mit Gerhard bin ich bis heute befreundet und im Austausch, nicht nur über Eschede. Aber im Kollegenkreis kommt das Thema immer mal wieder hoch, diese Bilder vergisst man natürlich nie. Aber mit der richtigen Hilfe werden sie nicht zu einer ständigen Belastung und man lernt, mit ihnen zu leben“, beschreibt der 51-Jährige seine Erfahrungen und Entwicklungen. Die Gedenkstätte hat er nach rund einem Jahr mit ausreichend emotionalen Abstand das erste Mal besuchen können.

Auch Timo Brüning hat den damaligen Unglücksort rund ein Jahr nach seinem Einsatz dort aufgesucht. Der Wunstorfer ist seit 35 Jahren ehrenamtlich bei den Johannitern tätig, in Eschede war der zu diesem Zeitpunkt 24-Jährige als stellvertretender Einsatzführer zuständig. In Rahmen der Einsatznachsorge hat auch er damals mit einem Betreuer Gespräche geführt und aufgrund seiner Erfahrungen Interesse an dieser Tätigkeit entwickelt. Später wurde eben dieser Betreuer sein Ausbilder für den Bereich Einsatznachsorge. Mittlerweile kennt Timo Brüning alle Seiten der Psychosozialen Notfallversorgung, sowohl als Betreuer im Bereich PSNV-E und PSNV-B, aber auch als betroffene Einsatzkraft: „Ich war nicht nur in Eschede, sondern später auch bei dem tragischen Ausgang der Love Parade in Duisburg (2010) im Einsatz, dort habe ich noch vor Ort ein Team für unsere Nachsorge angefordert. Als betroffene Einsatzkraft betreue ich niemals selbst, nehme das Angebot der Einsatznachsorge (ENS) aber bei Bedarf in Anspruch. Und ich möchte als Führungskraft wissen, wie es meinen Leuten geht, damit sie weder als Freunde noch als Kollegen durch diese Belastung ausfallen.“

Seinen letzten Einsatz im Bereich PSNV-B wiederum hat er erst vergangene Woche bei einem Suizid im Bahnhof erlebt: „Betroffen waren hier acht Menschen, sei es, weil sie das Geschehen mit ansehen mussten, schlimme Erinnerungen an einen Selbstmord im Freundeskreis getriggert wurden oder weil sie das Blut des Opfers auf der Jacke hatten. Wir versuchen die Menschen dann mit der richtigen Ansprache aufzufangen und einzuschätzen, was in den nächsten Schritten getan werden muss und ob wir sie Freunden, Familie oder doch einem Psychologen übergeben können oder müssen.“ Die Entwicklung der strategischen Psychosozialen Notfallversorgung sieht Timo Brüning grundsätzlich positiv: „Die Johanniter haben es geschafft, mit der PSNV ein funktionierendes und vertrauensvolles System aufzubauen.“ Seine eigenen Erfahrungen im Umgang mit den Erlebnissen konzentrieren sich auf zwei Schwerpunkte: „Im Einsatz funktionieren und dann reflektieren. Gespräche mit Familie, Freunden oder im Kollegenkreis können wirklich helfen. Man gibt dort einen Teil der Last ab, das Gegenüber muss diese Last aber auch tragen können.“

Mittlerweile umfasst die dem Fachbereich Bevölkerungsschutz zugeordnete PSNV im Landesverband Niedersachsen/Bremen als Gesamtstruktur alle Maßnahmen zur Prävention sowie der kurz-, mittel und langfristigen Maßnahmen bei belastenden Notfällen und Einsatzsituationen. Ziele sind die Prävention und Früherkennung von psychosozialen Belastungsfolgen, die Bereitstellung von adäquater Unterstützung und Hilfe für betroffene Personen und Gruppen zur Erfahrungsverarbeitung sowie die angemessene Behandlung von Traumafolgestörungen.

„Nachsorge für die Helfenden ist heute ein etablierter Bestandteil des professionellen Einsatzmanagements bei den Johannitern. Dazu zählt auch, dass wir an unserer Johanniter-Akademie Bildungsangebote für die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) etabliert haben. So werden Kompetenzen im Umgang mit traumatischen Erlebnissen bereits in der Grundausbildung für den Bevölkerungsschutz und Rettungsdienst vermittelt, sowie spezialisierte PSNV-Teams geschult“, erklärt Hannes Wendler, Mitglied im Landesvorstand der JUH.

Die Psychosoziale Notfallversorgung differenziert sich dabei in die Psychosoziale Akuthilfe für Betroffene (PSNV-B) und die Einsatznachsorge (PSNV-E). Die Maßnahmen der Akuthilfe richten sich zeitnah und kurzfristig an Überlebende, Angehörige, Hinterbliebene, Zeugen oder auch Vermissende. Sie werden durch psychische Erste Hilfe oder psychosoziale (Akut)-Hilfen angesprochen und aufgefangen, auf mögliche Folgen wie Schlaflosigkeit, Träume oder Flashbacks vorbereitet, in ihrer Handlungsfähigkeit wieder gestärkt und können bestenfalls in naher Zeit an Freunde oder Familie übergeben werden. Im Zentrum stehen das Bedürfnis und der Bedarf der betroffenen Menschen sowie die Vermittlung in ihr soziales Netzwerk. Die Einsatznachsorge (ENS) konzentriert sich auf die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insbesondere bei Rettungs- und Einsatzdiensten. Sie umfasst einsatzvorbereitende, -begleitende und -nachsorgende Maßnahmen, darunter eine systematisch-methodische Einzelberatung oder Gruppengespräche. Generell ist eine ENS auch in anderen Leistungsbereichen wie Pflege oder Betreuung möglich, wenn es dort zu belastenden Situationen kommt.

Der Landesverband der Johanniter Niedersachsen/Bremen stellt zurzeit elf PSNV-B / E Teams unter Leitung einsatzerfahrener Gruppenführer und Gruppenführerinnen. Sie sind in Hannover, Wunstorf, Bremen, Oldenburg, Hildesheim, Hude, Delmenhorst, Stade, Emden, Celle und Northeim aufgestellt.

Die fachliche Leitung haben in den PSNV-E Teams psychosoziale Fachkräfte. Insgesamt sind 50 Ehrenamtliche und Hauptamtliche in der PSNV-B tätig, davon 35 in der PSNV-E. Die 50 Helfer haben zum Teil auch beide Ausbildungen. „Einige unserer Hauptamtlichen engagieren sich in PSNV-Teams, natürlich sind aber auch insbesondere alle Ehrenamtlichen in diesem Bereich herzlich willkommen. Man braucht keine psychologische Ausbildung und wir freuen uns über entsprechendes Interesse an dieser Form der Betreuung“, unterstreicht Gerhard Latt. „Ein so großes Unglück wie Eschede erleben wir hoffentlich nicht mehr, aber auch bei Einsätzen wie plötzlichen Todesfällen, Wohnungsbränden, bei Bombenräumungen und natürlich bei Personenschäden im Bahnverkehr brauchen Menschen oft seelische Unterstützung.“ Nicht zuletzt hat die Flut im Ahrtal gezeigt, wie wichtig eine ausreichende und zügige psychologische Unterstützung auch überregional für den Bevölkerungsschutz sein kann. Auch hier waren PSNV-Teams der Johanniter aus Niedersachsen/Bremen vor Ort.

Die Ausbildung im Bereich PSNV-B ist ab einem Mindestalter von 23 Jahren möglich, umfasst 100 Unterrichtsstunden und zusätzlich 15 Stunden Prüfung. Die Ausbildung findet an den jeweiligen Standorten unter Leitung von Fachdozenten und Lehrbeauftragten statt. Die Ausbildung schließt mit einer schriftlichen und praktischen Prüfung ab. Die Fortbildung hinsichtlich der PSNV-E ist später auch für vollständig ausgebildete und einsatzerfahrene Kräfte der PSNV-B möglich, hier sind Erfahrungen im Bereich Rettungs- oder Sanitätsdienst allerdings von Vorteil, das Mindestalter liegt bei 25 Jahren.