Ukraine: „Hoffnung, dass die Welt sie nicht vergessen hat“
Die Johanniter und ihr Partner NEW DAWN unterstützen gemeinsam in der Region Kherson Vertriebene und Dagebliebene in den Dörfern mit dem Lebensnotwendigsten. Philipp Francke, Johanniter und Gründungsmitglied von NEW DAWN, hilft seit Beginn des Kriegs in der Ukraine den Menschen im Süd-Osten des Landes. Hier beschreibt er, was er dabei erlebt hat.
Wie kam es dazu, dass Sie in der Ukraine tätig wurden?
Kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine suchten die Johanniter einen Fahrer für Hilfsgütertransporte in die Ukraine. Da habe ich mich direkt gemeldet und den ersten Hilfskonvoi mit Medikamenten im Wert von 50.000 Euro an die moldawisch-ukrainische Grenze gefahren. Über einen Kontakt lernte ich die erfahrene ukrainische Entwicklungshelferin Julia Pogrebnaya kennen, die die Medikamente in Empfang nahm und gemeinsam mit anderen Freiwilligen in der Region um Odessa verteilte.
Wie kam es zu der Gründung einer Hilfsorganisation in der Ukraine?
Durch den Kontakt zu Julia hatten wir die Möglichkeit in Regionen zu helfen, in denen kaum Hilfsorganisationen tätig sind. Als zusätzlicher Partner, mit den gleichen menschlichen Werten, ist die Csilla von Boeselagerstiftung Osteuropahilfe e.V. hervorzuheben, da wir durch sie vor Ort die großen Mengen Hilfsgüter einkaufen können, die benötigt werden. Es wird so auch die lokale Wirtschaft gestärkt und Arbeitsplätze erhalten.
Damit wir auch internationale Partnerschaften und Kooperationen eingehen können, beschlossen Julia und ich sehr bald, sie müsse eine moderne und neutrale NGO gründen. Heute ist NEW DAWN eine der schlagkräftigsten und weitreichendsten Nichtregierungsorganisationen im gesamten Südosten der Ukraine.
Welche Hilfe leistet New Dawn?
Wir haben mittlerweile zwei Standbeine, um einerseits Vertriebenen und andererseits Menschen in den Dörfern entlang der Frontlinie zu helfen: In Odessa haben wir ein Zentrum eingerichtet, in das Menschen kommen, die alles verloren haben und eine Erstversorgung erhalten. Hier kommen auch Flüchtlinge, die aus Deutschland zurückgekehrt sind, an. Das zweite Standbein konnten wir dank finanzieller und beratender Unterstützung durch die Johanniter aufbauen. Dabei fahren wir in die verschiedensten Dörfer entlang der Frontlinie in den Regionen Odessa, Mykolaev und Kherson, um Dagebliebenen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen.
NEW DAWN fährt in Dörfer, die teils seit Monaten komplett von der Außenwelt abgeschnitten waren oder tagtäglich bombardiert worden. Was erleben Sie da?
Die Menschen haben Unbeschreibliches erlebt. In manchen Dörfern kommen sie mir vor wie Zombies; ausgehöhlt, dürr, mit leerem Blick. Diese Menschen leben seit Monaten ohne Strom, sauberes Wasser, Nahrungsmittel oder Hygieneartikel. Manche mussten sogar die Reste ihrer Familienmitglieder im Garten verscharren. Hier ist ein großer Teil unserer Hilfe nicht nur die Hilfsgüter, sondern die Hoffnung, die wir den Menschen bringen, dass die Welt sie nicht vergessen hat.
Am Wochenende berichteten die Medien von einem Rückzug der Truppen aus Kherson. Wie haben die Menschen das vor Ort erlebt?
Seit Wochen bereitet New Dawn sich darauf vor. Nicht nur, weil ein Teil der Freiwilligen aus diesen Dörfern oder aus der Stadt selbst kommen oder Verwandte dort haben.
Es ist zu früh, um genau zu beschreiben, was die Menschen erlebt haben. Unglaublich ist, unter welchen Umständen sie überlebt haben. Teilweise bis zu 100 Raketeneinschläge an nur einem Vormittag. Die Freude wieder „Zuhause“ in der Ukraine zu sein ist unbeschreiblich. Nur ist das „Zuhause“ kaputt und nicht mehr da. Es ist alles zerstört. Alles. Häuser, Schulen, Brücken … Leben sind zerstört und verschwunden.
Die Geschichten der Menschen, die blinzelnd aus den Kellern kommen, die seit Monaten das erste Mal die Hilfe empfangen, sind emotional sehr schwer zu verkraften. Es sind Geschichten von verlorenen Kindern, von Krankheit, Angst und Hunger.
Aber es ist auch die große, ungläubige Freude und unfassbare Zuversicht der Menschen zu erwähnen. Der Winter wird hart, aber NEW DAWN ist zuversichtlich mit dank der Unterstützung durch die Johanniter vielen tausenden Menschen Hilfe und Unterstützung bringen zu können.
Wie verarbeiten Sie all das?
Ich bin dankbar, helfen zu können. Dankbar den Menschen, die helfen, helfen zu können und tatsächlich aktiv ein wenig an der Linderung des Leides der Bevölkerung teilhaben zu können.
Wir erhalten auch sehr viel Unterstützung von der ukrainischen Gesellschaft. Freiwillige, die selber betroffen sind, schließen sich uns an. Bäcker stiften Gebackenes und lokale Unternehmen spenden einen Spielplatz, damit die Kinder der Flüchtlinge spielen können. Es kommt Hilfe von allen Seiten und inzwischen gibt auch das Integrationsministerium in Kiew New Dawns Telefonnummer an Menschen in verzweifelter Not weiter.
Jetzt vor dem Winter hören wir von großen Fluchtbewegungen nach Deutschland. Was hören Sie aus Ihrer Projektregion?
Wir erleben genau das Gegenteil. Die Menschen kommen zurück. Sie hören von den befreiten Dörfern und packen ihre Sachen. In der Ukraine stehen sie meist vor dem Nichts, weil alles zerstört wurde. Doch ihr Heimweh ist zu groß, als dass es sie davon abhalten würde. Schon in den ersten drei Tagen der Befreiung der Dörfer um Kherson sehen wir die ersten Teenager wieder auftauchen. Sie stehen im Nichts. Sind aber Zuhause.