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05.04.2020 | Johanniterorden Generalsekretariat

Zweiter Gruß des Ordensdekans

Andacht des Ordensdekans am Palmsonntag, 5. April 2020

Seit Kindertagen haben meine Eltern am Palmsonntag auf den Frühstückstisch einen kleinen, kerzentragenden Esel gestellt, dem man inzwischen sein Alter deutlich ansieht. An verschiedenen Stellen ist im wahrsten Sinne des Wortes der Lack ab. Man erkennt bei näherem Hinsehen auch, dass er bei einem Sommerurlaub in Dänemark gekauft wurde – inzwischen weiß niemand in der Familie mehr, wo und wann genau. Aber meine Frau und ich haben den kleinen Esel geerbt und stellen ihn, wenn wir zu Hause sind, immer noch auf den Frühstückstisch am Palmsonntag.

Mit dem Palmsonntag beginnt die Karwoche und wir erinnern uns an Stationen des Leidens Jesu Christi. Im gewöhnlichen Alltag frühlingshafter Tage fällt uns solche Erinnerung nicht leicht, weil unser Leben auf den ersten Blick so wenig zu tun hat mit dem Leben eines aus Galiläa stammenden Juden, der in Jerusalem erst begeistert begrüßt und dann brutal zu Tode gebracht wird. Wir verdrängen gewöhnlich (und aus nachvollziehbaren Gründen) diese schrecklichen Züge der Verhaftung, des Prozesses und der Hinrichtung Jesu. So erstickte man langsam und qualvoll am Kreuz, weil den Delinquenten immer mehr die Kraft fehlte, sich mit den Füßen abzustützen, die Körper aufzurichten und Atemluft in die Lungen zu bekommen.

Zu Beginn der letzten Woche Jesu, an den wir am Palmsonntag erinnern, hatte alles noch ganz anders ausgesehen: In den meisten Evangelien ist die Rede davon, dass „viele“ Menschen und eine „große Menge“ Jesus vor den Toren der Stadt Jerusalem begrüßten und in ihm den in der Bibel verheißenen Friedenskönig sahen. Wie ein solcher messianischer Friedenskönig handelte er übrigens auch, als er im Vorhof des Tempels die Geldwechsler und Händler hinauswarf, die für das Funktionieren des geordneten Tempelkults eigentlich unabdingbar waren. Jesus von Nazareth konfrontierte – kurz gesagt – zu Beginn dieser Woche die Menschen mit seinem ganz besonderen Anspruch, an der Stelle Gottes selbst zu handeln und provozierte auf diese Weise im Laufe einer Woche leidenschaftliche Zustimmung, aber auch ebenso leidenschaftliche Ablehnung bis hin zur Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung.

Wenn ich (wie immer wieder seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts) in Jerusalem und also vor Ort versuche, mich an diese letzte Woche Jesu zu erinnern, fällt mir das leichter als im Berliner Alltag. Wenn man in Jerusalem am Palmsonntag in der Prozession mitläuft, die Jahr um Jahr über den Ölberg und das Kidrontal in die Altstadt führt, dann fällt es leicht, sich lärmende Volksmengen vorzustellen, die am einen Tag „Hosianna“ rufen und am nächsten Tag „Kreuzige ihn“: Ich stehe dann ja auch physisch mitten drin. Im Heiligen Land fällt die Erinnerung an Jesu Passion auf den ersten Blick leichter: Vor einigen Jahren stand ich vor einer Gruppe und hatte viele Minuten lang den einzigen erhaltenen archäologischen Überrest einer Kreuzigung in meinem Handteller liegen – ein Fersenknochen, durch den ein langer Nagel so unglücklich getrieben worden war, dass ihn die römischen Soldaten nach dem Tod des Delinquenten nicht herausziehen und wiederverwenden konnten, wie sie das sonst bei Kreuzigungen taten. Was müssen das für Schmerzen gewesen sein, die ein solcher Nagel im Knochen machte!

In diesem Jahr geht es mir zum ersten Mal aber ganz anders. Obwohl der kleine kerzentragende Esel aus Dänemark kein leibhaftiger Esel ist und unser gemeinsames Frühstück am Palmsonntag 2020 in Berlin keine Prozession mit viel Lärm und Tamtam der arabischen christlichen Pfadfindergruppen, führt doch die gegenwärtige Krise automatisch dazu, dass die Meditation der letzten Tage Jesu mir jedenfalls leichter fällt als sonst mitten im Berliner Alltag. Die Stadt ist stiller als sonst, ich höre die Glocken, die zum Gebet rufen, viel deutlicher als sonst, kein voller Terminkalender hält mich davon ab, mir Zeit zu nehmen für die Texte der biblischen Passionsgeschichte. Vor allem aber wird mir viel deutlicher als sonst, wie stark in den uralten Texten meine eigene Gegenwart beschrieben ist. Wie oft habe ich „Hosianna“ oder „Kreuzige ihn“ mitgebrüllt, statt einen Augenblick zu überlegen, still zu bleiben und vielleicht sogar dem Gebrüll Einhalt zu gebieten? Wie oft habe ich das alles getan, ohne mindestens zu versuchen solchem Gebrüll Einhalt zu gebieten? Habe ich die Zeichen der Zeit erkannt und begriffen, was die Stunde geschlagen hat? Oder war es mir wie den Jerusalemern im Blick auf Jesus von Nazareth nach ein paar Tagen unangenehm und ich empfand pointierte Zeitansage als Ruhestörung? Man muss nicht zu denen gehören, die Ruhestörer physisch auslöschen wollen, um sich im Verhalten der vielen Menschen und der großen Menge wiederzuerkennen. Vielen unter uns ist vermutlich unvergesslich, wie Bach den Chor in der Matthäus-Passion die bange Frage singen lässt „Herr, bin ich’s?“ und Ruhe in den aufgeregten Haufen erst kommt, als man gemeinsam einen Vers von Paul Gerhardt intoniert, der pointiert beginnt: „Ich bin’s“. Ich möchte mitsingen, wenn ich es in diesen Tagen höre, nicht nur deswegen, weil ich es schon so oft gehört habe. Ich denke und fühle es auch.

Wenn wir uns in diesen Tagen Zeit nehmen, wird aber noch viel radikaler deutlich, dass in den Passionsberichten auf sehr vielen Ebenen von uns die Rede ist: Denn die Ausbreitung des Corona-Virus macht viel deutlicher als sonst, dass auch wir alle innerhalb einer Woche sterben können – im Rahmen einer Pandemie, die durchaus nicht nur auf klassische Risikogruppen alter oder vorerkrankter Menschen beschränkt ist. Der Tod rückt in diesen Tagen viel näher an unseren Alltag: Werden wir, wenn Eltern, Verwandte oder Freunde in diesen Tagen sterben müssen, sie noch einmal sehen können und Abschied von ihnen nehmen dürfen? In der Passionsgeschichte unserer Evangelien wird der Sterbende von fast allen verlassen. Umso wichtiger, dass es bei uns überall medizinisches Personal gibt, dass sich in solchen Situationen nicht nur um die technischen Probleme kümmert.

Wir gehen in diesen Tagen einen Weg mit Jesus von Nazareth und die schlimmen Umstände dieses Weges rücken uns näher als sonst. Wir machen uns Sorgen, haben Angst um das Leben der Menschen, die uns am Herzen liegen und wahrscheinlich auch um das eigene Leben, wir suchen nach Trost und Menschen, die uns diesen Trost zusprechen. Zu einer sehr alten Tradition der Erinnerung an die Passion, an das Leiden und Sterben Jesu, gehört, dass das Bild des sterbenden Jesus uns Menschen, die wir Angst haben, trösten will und trösten kann. Es ist eine mittelalterliche Tradition, die die Reformatoren und insbesondere Martin Luther aufgegriffen haben und die daher zum ökumenischen Erbe der Christenheit gehört. Paul Gerhardt hat in der letzten Strophe eines seiner berühmten Choräle ausgedrückt, wie die Erinnerung an den sterbenden Jesus am Kreuz trösten kann:

Erscheine mir zum Schilde, / Zum Trost in meinem Tod, / Und laß mich sehn dein Bilde / In deiner Kreuzesnot! / Da will ich nach dir blicken, / Da will ich glaubensvoll / Dich fest an mein Herz drücken. / Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Ein Trost in meinen Sorgen und Ängsten kann der Blick auf das Kreuz werden, weil mir da deutlich wird, dass einer schon für mich durch den Tod gegangen ist mit allen seinen Schrecklichkeiten und in diesem Tod nicht endgültig untergegangen ist. Er ist mir zugut gestorben, damit ich in meinem Tod auch nicht endgültig untergehen muss, Hoffnung schöpfen und andere trösten kann. Den Trost dieser Botschaft kann ich jedenfalls nur wirklich und tief empfinden, wenn ich auch die schrecklichen Züge der Passionsgeschichten nicht von mir fernhalte und das fällt in diesen Tagen leichter als sonst. Und selbst mein kleiner, schon etwas abgenutzter und leicht beschädigter Esel aus Kindertagen hilft mir plötzlich, wahrzunehmen, wie schon beim Lesen und Bedenken der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem der Lack blättert und die Beschädigungen sichtbar werden. Da wird der kleine Esel ganz groß.

Ich wünsche allen, die diese Zeilen lesen, von ganzem Herzen gesegnete Kartage und eine Woche, in der uns die Besinnung auf Jesu Leiden und Sterben den Trost bringen möge, den wir in diesen schwierigen Tagen so dringend brauchen. Trost, den insbesondere die brauchen, die sich mit ganzer Kraft in diesen Tagen für Kranke und Sterbende einsetzen.

Bleiben Sie an Leib und Seele gesund!

Ihr Christoph Markschies, Ordensdekan

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