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06.10.2023 | Hamburgische Kommende des Johanniterordens

Vertrauen schenken - nicht wegwerfen

Vertrauen - ein hehres Wort in Zeiten der Krise. Wem vertrauen wir eigentlich - der Politik, der Kirche, Gott? Oder eher den Algorithmen? Eine Reflexion von Pastor Martin Hofmann über den christlichen Wert, Vertrauen zu schenken.

Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt.“

Liebe Gemeinde, ich möchte Sie zu Anfang zu einem kleinen Experiment einladen: Holen Sie bitte einmal Ihr Handy raus. Entsperren Sie’s. Und dann geben Sie es für 20 Sekunden ihrer Sitznachbarin, ihrem Sitznachbarn. Die können dann mit Ihrem Handy tun und machen, was sie wollen… Dieses Experiment habe nicht ich mir ausgedacht, sondern die amerikanische Vertrauensforscherin Rachel Botsman, die damit bei Vorträgen regelmäßig große Heiterkeit und massives Unbehagen hervorruft. Nicht wenige gaben nach der Aufforderung an, gerade heute… zufälligerweise kein Handy dabei zu haben. (Darum fragte ich am Anfang des Gottesdienstes.) Für viele von uns ist das Smartphone zur Schatztruhe der eigenen Privatsphäre und Geheimnisse geworden. Die vertrauen wir nur sehr ungern jemand anderem an. Das ist keine Kritik, sondern nur eine Beobachtung.

…werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat, heißt es in unserem Predigttext. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt…. Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden, sondern solche, die glauben und die Seele erretten.

Wir leben in einer Vertrauenskrise. Das mögen meine Kollegen und Kolleginnen vielleicht schon seit 2000 Jahren predigen, aber jetzt haben wir’s wissenschaftlich bestätigt: Die Körberstiftung hat letzten Monat die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht: Nur noch 9 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger vertrauen mittlerweile noch den politischen Parteien:

„71 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass führende Leute in Politik und Medien in ihrer eigenen Welt leben, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung herabschauen.”

93 Prozent aller Deutschen möchten auf kommunaler Ebene bei wichtigen Entscheidungen stärker mit einbezogen werden. Allerdings wären nur 8 Prozent bereit, sich auch wirklich kommunalpolitisch zu engagieren. (Kleine Randbemerkung: Wäre das eine Umfrage unserer Kirche: Die Ergebnisse wären vielleicht vergleichbar gewesen.)

Bei all dem: Vertrauen ist in unserer Gesellschaft schon noch da. Es ist nur woanders. Wir vertrauen nicht mehr der Ampel, den Kirchen oder gar dem lieben Gott, wohl aber Algorithmen: zum Beispiel den Amazon-Leseempfehlungen, den Netflix-Filmvorschlägen und dass Alexa & Co in unseren Schlafzimmern nur “Alexa, wecke mich um 6:30 Uhr” aufnimmt und nichts anderes.

Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Diese Zeilen entstanden in einer Zeit, in der ein Despot regierte, in denen sich Christinnen und Christen wie die “Last Generation” ihrer Art fühlen: Der Glaube erlahmt, der Gottesdienstbesuch wird immer mehr Routine, die nächste Generation droht wegzubrechen. Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Das mag man als Durchhalteparole lesen, bis der liebe Gott dann endlich doch mal kommt… Ähnliches mag man Marathonläuferinnen bei Kilometer 35 predigen: Einfach weiterlaufen. Ist nicht mehr lang. Das kommende Himmelreich: eine Karotte vor der Nase, die mich wie ein Esel weiterlaufen lässt, eine etwas verzweifelte Hoffnungsmache in Zeiten der Christenverfolgung: Bald ist es vorbei damit. Seit 2000 Jahren läuft unser Glaube mit dieser Hoffnung durch die Zeiten. Der Heiland lässt immer noch auf sie warten, Tyrannen gibt’s immer noch auf der Welt.

Christliches Vertrauen scheint etwas anderes zu sein als Cheerleading bei Kilometer 35. Die Welt ist in den letzten 2000 Jahren nicht gerade übersichtlicher geworden zu sein. Wir taumeln von einem Krisenkomplex zum anderen: Klima, Migration, Wirtschaft, Extremismus… Und sollte es jemals Zeiten einfacher Antworten und Lösungen gegeben haben: Die sind spätestens jetzt vorbei.

Letztens hörte ich im Bus, wie mein Sitznachbarpaar sich über die Vertrauenskrise in der Politik unterhielt. Er so: "Ist doch ganz klar: Die Medien sind an allem schuld!” Was für eine wunderbare, klare Antwort! Denn da bin ich raus aus der Sache. Dass ein ätzender Journalismus und soziales Mediengebubble im Moment alles andere als hilfreich ist: unbestritten. Aber ist das vielleicht doch ein bisschen unterkomplex: einfach auf die Medien einzudreschen? Sollten wir nicht zumindest den Gedanken in Erwägung ziehen, dass all das auch etwas mit uns zu tun hat? Dass die politischen Probleme gar auch (!) ein spirituelles Problem in unseren eigenen Herzen widerspiegeln?

Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. „Nein, es gibt kein Patt zwischen Gottesglauben und Atheismus!“, schreibt Hans Küng. „Der Preis, den der Gottesglaube für sein Ja erhält, ist offenkundig. Weil ich mich statt für das Grundlose für einen Urgrund, statt für das Haltlose für einen Urhalt, statt für das Ziellose für ein Urziel vertrauensvoll entscheide, vermag ich nun mit gutem Grund bei aller Zwiespältigkeit eine Einheit, bei aller Wertlosigkeit einen Wert, bei aller Sinnlosigkeit einen Sinn der Wirklichkeit von Welt und Mensch zu erkennen. Und bei aller Ungewissheit und Ungesichertheit, Verlassenheit und Ungeborgenheit, Bedrohtheit, Ver- fallenheit, Endlichkeit auch meines eigenen Daseins ist mir vom letzten Ursprung, Ursinn und Urwert her eine radikale Gewissheit, Geborgenheit und Beständigkeit geschenkt - geschenkt.“

Das ist die Belohnung, die der Hebräerbrief meint: Kein: “Es wird schon wieder!”, sondern: “Es ist!” Es ist gehalten in all seiner Komplexität, in seinen Fragmenten, in seiner Bedrohlichkeit. Wer darauf vertraut, darf eingestehen, kein Patenlöser aller Probleme zu sein, darf sagen: Ja, kann ist alles komplex, lass uns reden, und zwar miteinander, nicht gegeneinander. Vertrauen unter den Menschen wächst dort, wo Selbst- und Gottvertrauen zunimmt. Wenn ich um meine Grenzen und Möglichkeiten weiß, bin ich offen für Vertrauen. Wo ich mich so anderen in meiner Unvollkommenheit zumute, werde ich kenntlich, glaubhaft, vertrauenswürdig.

Naja, vielleicht nicht vertrauenswürdig, sondern: Ich werbe bei meinem Gegenüber um einen Vertrauensvorschuss, ohne den weder ich noch er leben kann. Werft euer Vertrauen nicht weg, heißt: Wir leben immer auf Kredit, wir geben und empfangen Vertrauen, ohne es zu verdienen. Vertrauen ist eine Ware, die geschenkt wird, nicht gekauft. Auch, wenn wir von Vertrauen verdienen sprechen: Es ist und bleibt unsere Entscheidung. Vielleicht sind es gar nicht die Menschen, die uns noch nie enttäuscht haben, die unser Vertrauen verdienen. Wäre das der Maßstab: Wem könnte man denn noch vertrauen?? Vielleicht sind es die, die wie wir selbst enttäuschen und von denen wir enttäuscht werden, die die sagen: Es tut mir leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Vielleicht sogar die, die skandalöser Weise behaupten: Du hast einen Fehler gemacht und uns damit vor den Bug treffen. Warum sollten wir nur den vertrauen, die unsere Bedürfnisse befriedigen und uns nach dem Munde reden?

Für den Hebräerbrief ist Vertrauen kein Gefühl, das durch Enttäuschung verspielt wird, sondern Entscheidung, meiner Nächsten, meinem Gott, meiner Zukunft Gutes zu unterstellen. Auch da leben wir auf Kredit, der oft genug verspielt wird. Christlichem Glauben wohnt ein Trotz inne: keine Erbsenzählerei, kein Aufrechnen, kein Nachtragen bis in alle Ewigkeit. Ich weigere mich, mein Vertrauen in der Währung harter Faktenwährung zu handeln.

Ich schenke Vertrauen, weil ich vergeben kann, weil ich weiß: Auch ich verdiene kein Vertrauen. Es wird mir bestenfalls geschenkt. Allein darüber reden zu können ist Vertrauenssache.

Willy Bünter schreibt: "Sag mir, was dich trägt,
Erzähl mir von dem, was dich hält,
dich nicht verzweifeln lässt.
Zeige mir den Grund deines Vertrauens,
die Quelle deiner Kraft.
Berichte mir von deinem Weg in die Tiefe,
damit ich meinen Weg zu gehen wage,
den Grund finde und die Quelle
und Vertrauen schöpfe bei dem, dem du vertraust.
Rede mit mir von Gott,
damit er lebendig wird in uns und zwischen uns."

Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Amen.

Predigt von Pastor Martin Hofmann zum 16. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2023, Hebr. 10,35–36.39