Ostergruß 2020
Am Beginn dieses Ostergrußes steht der alte und immer wieder neue Ostergruß der Christenheit:
„Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja“. Grüßen wir einander, auch wenn wir es gerade nicht im direkten Gespräch vor Ort tun können, am Telefon, bei der Videokonferenz, per Mail mit diesem Wechselgruß: „Der Herr ist auferstanden“ – und der oder die andere antwortet: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“. In diesem Sinne wünsche ich allen, die diese Zeilen lesen, fröhliche und gesegnete Ostern!
Oft treffen die biblischen Lesungen eines Sonn- oder Festtages, die von einer Kommission vor Jahren, Jahrzehnten und im Einzelfall sogar vor Jahrhunderten für die gottesdienstlichen Ordnungen ausgesucht wurden, in besonderer Weise auf die aktuelle Situation zu und scheinen geradezu für die augenblickliche Lage geschrieben. Das gilt auch für den Text aus dem Neuen Testament, der eigentlich in diesem Jahr 2020 in den Gottesdiensten der Osternacht Grundlage der Predigten hätte sein sollen; er steht im zweiten Timotheusbrief im zweiten Kapitel, die Verse 8-13:
Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten, aus dem Geschlecht Davids, nach meinem Evangelium, für welches ich leide bis dahin, dass ich gebunden bin wie ein Übeltäter; aber Gottes Wort ist nicht gebunden. Darum dulde ich alles
Halt im Gedächtnis Jesus Christus (oder, wie es in den älteren Lutherübersetzungen hieß: Halt im Gedächtnis Jesum Christ) – ich werde nie die glückliche Stunde vergessen, als ich einmal in einem Gottesdienst predigen durfte, in dem eine österliche Kantate von Johann Sebastian Bach aufgeführt wurde, die diesen ersten Satz unseres Textes im Eingangschor vertont: „Halt im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist von den Toten“1. Die junge Kantorin musizierte damals diesen Eingangschor äußerst forsch und ließ ihren Chor das anfängliche „Halt“, das Bach dreimal hintereinander wiederholt, förmlich skandieren: „Halt! Halt! Halt!“. Das fuhr durch Mark und Bein. Es war so gesungen, dass es wirkte wie die Worte von jemanden, der einen anderen davon zurückhalten will, in ein fahrendes Auto zu rennen: „Halt! Halt! Halt!“. Und ich übersetzte mir diese so schroff gesungene Zeile „Halt! Halt! Halt! Im Gedächtnis Jesum Christ!“ als einen Weckruf: Vergiss doch in der Hektik deines Alltages, vergiss doch unter all’ deinen alltäglichen Sorgen und kleinen Freuden nicht die wirklich zentrale, lebenswendende Botschaft von Ostern. „Halt! Halt! Halt!“: Besinn’ dich doch im Getriebe auf das Wesentliche, verlier dich nicht in den Zerstreuungen des Alltags, sondern halt im Gedächtnis Jesu Christ, der von den Toten auferstanden ist. Mir scheint,dass gerade in diesen Tagen der Corona-Krise eine solche Lesart unseres Predigttextes viel Sinn macht. Es ist gut und richtig, dass wir uns so intensiv mit den Problemen einer Pandemie beschäftigen, es ist gut und richtig, dass wir uns um Menschen kümmern, die unsere Hilfe brauchen und die einen sich um den Alltag einzelner Menschen kümmern und die anderen um das generelle Krisenmanagement. Was gäbe es dazu nicht alles aus der Johanniterfamilie zu berichten – wie selbstlos wird da an verschiedensten Stellen geholfen. Aber nach so vielen Tagen lock down, nach Konzentration auf die eigenen vier Wände, das Krankenhaus, den mit Folien verhängten Fahrersitz im Bus und das Atmen mit Atemschutzmaske gilt doch erst recht: „Halt! Halt! Halt!“. Es gibt noch Anderes, es gibt noch Wichtigeres, es gibt die österliche Botschaft vom Sieg des Lebens inmitten von Tod und Sterben. Es gibt diese österliche Botschaft, die uns Kraft schenken will in unseren Ängsten und Sorgen. „Halt! Halt! Halt!“. Auch die soll Platz im Gedächtnis haben, auch die soll uns erfüllen und nicht nur die Sorgen und Ängste einer Krise, die für viele Menschen inzwischen sehr bedrohliche Züge annimmt, so bedrohlich, dass Sorgen und Ängste überhand zu nehmen drohen. „Halt! Halt! Halt!“. Ein österlicher Weckruf des neuen Testamentes, wunderbar instrumentiert und vertont vom Thomaskantor aus Leipzig in seinem ersten Amtsjahr.
Zur Vorbereitung dieses Ostergrußes habe ich noch einmal der Eingangschor der Kantate von Johann Sebastian Bach hören wollen – und inzwischen bietet einem das weltweite Netz dafür ja eine ganze Menge Angebote verschiedenster Stile und Aufführungspraktiken, Richter, Rilling, Kuijken, Leonhardt, Johannsen, Biller … über fünfzehn verschiedene Aufnahmen hat meine oberflächliche Suche ergeben, durch die ich mich zunehmend verwundert durchhörte am vergangenen Mittwoch. Denn die meisten Dirigenten interpretierten den Eingangschor gar nicht wie die junge Kantorin damals, forsch und zackig als Weck- und Warnruf: „Halt! Halt! Halt!“. Ganz im Gegenteil, sie begannen das Stück wie ein sanft dahinwogendes Tanzlied, mit langem, freundlich intensiven, werbenden: „Halt … Halt … Halt …“ auf ziemlich lang gesungenen Noten. Jesus Christus im Gedächtnis halten ist ein Langzeitprojekt, ist ein Lebensprojekt. Man braucht einen langen Atem, um aus anfänglicher Begeisterung als Jugendlicher und Konfirmand nicht in Gleichgültigkeit als Erwachsener zu verfallen, um nach dem Wegzug aus einer wunderbaren Gemeinde hier über Lieblosigkeit und Chaos in der Kirchengemeinde da nicht zu verzweifeln – „Halt … Halt … Halt … im Gedächtnis“, gib nicht zu früh auf, erinnere dich, bewahre in deinem Herzen die österliche Erinnerung der letzten Jahre in diesem Jahr, wenn kein Osterfeuer vor der Kirche brennt und kein Kantor das Osterlob in die dunkle Kirche singt und die Orgel machtvoll „Christ ist erstanden“ intoniert mit den großen Basspfeifen und der Posaune. Ein lauter Weckruf oder sanfter, werbender Aufruf durchzuhalten? „Halt! Halt! Halt!“ oder „Halt … Halt … Halt“? Auch den sanften, werbenden Aufruf können wir dieser Tage gut gebrauchen. Könnten brauchen, wenn uns einer an der Hand nimmt und in einem sanften Tanz führt, einüben hilft, im Gedächtnis Jesu zu bleiben, bei der tröstlichen Botschaft vom Sieg des Lebens über den Tod, so dass wir in dieser Botschaft leben, aus dieser Botschaft leben, von daher mit den Sorgen und Ängsten umgehen, auch mit der letzten, großen Angst vor dem Tod. „Bewahren Sie sich im Homeoffice einen regelmäßigen Rhythmus“, empfiehlt man uns – gesagt, getan, wir schreiten im Rhythmus der Musik von Bach: „Halt … Halt … Halt“. Und doch brauchen wir zugleich den scharfen, schroffen Weckruf, wenn wir im Alltag versinken, in den Ängsten, aber auch in der Langeweile der Regelmäßigkeit, statt ewig gleichem Rhythmus ein machtvolles „Stopp“: „Halt! Halt! Halt!“.
Nachdem ich also viele Male ein und denselben Eingangschor gehört hatte, fiel mir ein, dass ich mir vor vielen Jahren zum Kantatengottesdienst eine Taschenpartitur gekauft hatte, die zog ich vor und blätterte den Eingangschor auf. Die dreimal „Halt“ sind im Alt, Tenor und Bass halbe Noten und darüber singt der Sopran lange ganze Noten und singt nur zweimal „Halt“. Wenn man auf die Noten schaut, wollte Bach offenbar, dass das „Halt“ die etwas aufgeregte Szenerie des Orchesters beruhigte, bevor dann „im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist“ wieder Bewegung in Chor und Begleitung kommt. Wenn man streng nach der Partitur geht, muss man also sagen, dass meine forsche Kantorin haarscharf an den Noten vorbeimusizierte, wenn sie die halben Noten knapp wie Viertel oder gar wie Achtel nahm: „Halt! Halt! Halt!“ ist eindrücklich, ergibt Sinn, aber ist interpretatorischer Einfall. Und auch im griechischen Original des zweiten Timotheusbriefes steht in unserem Predigttext kein knappes Befehlswort, sondern das Wort, das auch in den Abendmahlsworten in einem Kompositum verwendet ist: Zu seinem Gedächtnis sollen wir feiern, und an dieses Gedächtnis sollen wir uns halten. Christentum ist Gedächtnis an Jesus Christus, Gottesdienst ist Gedächtnis, unser Leben soll von diesem Gedächtnis getragen sein. Gedächtnis kann das Gedächtnis eines Abwesenden sein. Mein Vater pflegte zu den großen Festen in die Kirche zu kommen, so lange das irgend ging und bis er vor zwölf Jahren starb. Er ist nun als Abwesender in meiner Erinnerung aufbewahrt, als einer, der auch in der Erinnerung immer ein leibhaft Abwesender sein wird. Er kommt nicht mehr in seinem Rollstuhl hier herein gefahren.
Beim Osterglauben hängt aber alles daran, dass wir Jesus Christus nicht so wie einen abwesenden Menschen glauben, der uns allenfalls als leibhaft Abwesender in der Erinnerung gegenwärtig wird. Jesus Christus ist nicht nur gestorben, sondern er ist auferstanden, als Erster von allen Toten. Er lebt und insofern ist er als Lebender unter uns gegenwärtig, ist als Lebender in unserem Gedächtnis. Im Abendmahl dürfen wir diese besondere Präsenz Jesu Christi als lebendig mitten unter uns schauen und ahnen, warum die kirchliche Tradition ihn nicht nur als wahren Menschen bekannte, sondern zugleich auch als wahren Gott. Man muss sich in diese große, tröstliche Botschaft, dass einer für alle schon einmal den Tod überwunden hat, sanft einschwingen. „Halt … halt … halt“. Da helfen (und das hat Bach wahrscheinlich geahnt), keine lauten, forschen Rufe, sich gefälligst zu erinnern. In diese fröhliche Gewissheit müssen wir uns wohl tatsächlich ein Leben lang langsam und geduldig wieder hineinfinden, wenn wir sie denn einmal hatten, erfahren durften in einer Os-ternacht oder wann auch immer im Leben. Denn nicht nur wir sind auf dem langen Weg, das alles zu glauben, bis wir einmal die Wahrheit der Osterbotschaft mit eigenen Augen schauen dürfen. Am Ende des Predigttextes dieser Osternacht steht der wunderbare Satz, dass Gott diesen Weg auch in aller Treue mit uns mitgeht, wenn wir abirren, er uns aus dem Gedächtnis kommt, wir in Sorgen und Ängsten versinken, in dieser Krise oder in welchen Krisen auch immer. Er lädt uns immer wieder ein: „Halt im Gedächtnis Jesum Christ, der von den Toten auferstanden ist“, „Halt mich im Gedächtnis, denn ich will bei Dir sein und bleiben“.
„Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja“. In diesem Sinne wünsche ich allen, die diese Zeilen lesen, nochmals von ganzem Herzen fröhliche und gesegnete Ostern!
Christoph Markschies, Ordensdekan