Das sagen die Expertinnen und Experten

Die von uns befragten Blaulicht-Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Verwaltung, Politik und den Hilfsorganisationen sind sich einig: Die Politik steht bei der Erneuerung des Rettungsgesetzes NRW unter verschärfter Beobachtung. Denn das System steht unter großem Druck. Wird die Problemlösung nicht beherzt angegangen, droht dem Rettungsdienst absehbar ein signifikanter Leistungseinbruch. Damit wackelt dann auch ein zentrales Sicherheitsversprechen der Gesundheitsversorgung - das Menschen sich im Notfall auf eine schnelle Hilfe durch den Rettungsdienst verlassen können.

Johanniter-Regionalvorstände finden klare Worte zur Lage des Rettungsdienstes

Die Johanniter Regionalvorstände Stefan Müller (Regionalverband Bergisches Land) und Julian Müller (Regionalverband Bonn/Rhein-Sieg/Euskirchen) heben die Dringlichkeit von Reformen hervor und formulieren zentrale Forderungen an die nordrhein-westfälische Politik:

Mangelnde Ausbildungskapazitäten verschärfen die Personalsituation im Rettungsdienst

Der Leiter der Johanniter-Akademie NRW, Sven Blatt, und die Regionalvorstände Julian Müller (Regionalverband Bonn/Rhein-Sieg/Euskirchen) und Stefan Müller (Regionalverband Bergisches Land) schildern, wie wichtig eine spürbare Anhebung der Ausbildungskapazitäten für die zukünftige Versorgung mit Fachkräften ist und wie langjährige Versäumnisse im Ausbildungsbereich die Personallage zusätzlich zum demographischen Wandel noch massiv verschärft haben.

Steigende Einsatzzahlen im nicht-lebenskritischen Bereich erhöhen Belastung und Frustration unter Rettungskräften

Die Alarmierung der 112 läuft aus dem Ruder: Immer häufiger rücken die Einsatzkräfte aus, ohne dass eine lebensbedrohliche oder schwere Verletzung ihren Einsatz rechtfertigen würde. Wie fühlt es sich an, tagtäglich im Einsatz Dinge zu tun, die eigentlich nicht Teil der Ausbildung sind? Und was muss passieren, damit der Rettungsdienst sich wieder auf seine Kernkompetenz – Leben retten – konzentrieren kann? Dies schildern JUH-Notfallsanitäterin Jacquelin Ordon, die Fachbereichsleiterin Rettungsdienst des Regionalverbandes Lippe-Höxter, Franziska Otto, sowie der JUH-Regionalvorstand (Bonn/Rhein-Sieg/Euskirchen) Julian Müller.   

Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter dürfen ihr in der Ausbildung erworbenes Fachwissen häufig nur begrenzt zum Einsatz bringen.

Der Beruf Notfallsanitäter/-in vermittelt in einer dreijährigen Ausbildung vertiefte Kenntnisse der Notfallrettung und befähigt zur eigenständigen Durchführung notfallmedizinischer Maßnahmen. Die bundesweit sehr hohen und gleichwertigen Qualifikationsstandards für Notfallsanitäter sind ein Meilenstein für den nicht-ärztlichen Teil des Rettungsdienstes. Häufig dürfen sie das, was sie in der Ausbildung gelernt haben, in der Praxis gar nicht anwenden. Was in vielen westlichen Ländern längst etabliert ist, scheitert hierzulande immer noch am Widerstand der ärztlichen Lobby, konkret an vielen Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst der Kommunen. Diese bestimmen von Kommune zu Kommune eigenständig darüber, welche Eingriffe durchgeführt und welche Medikamente von Notfallsanitätern verabreicht werden dürfen. Das macht auch ein Gebietsgrenzen überschreitenden Austausch von Rettungspersonal an vielen Orten nicht möglich.

Nicht nur Bundesgesundheitsminister Lauterbach will hier Veränderungen durchsetzen. Auch unsere befragten Expertinnen und Experten – darunter Ärztliche Leiter Rettungsdienst – befürworten einheitliche Einsatzbefugnisse. Die meisten plädieren auch dafür, Einsatzkompetenzen auszuweiten. Nicht zuletzt, um die knappe "Ressource Notarzt" zu schonen.

Verbesserung der Leitstellen für bedarfsgerechte Lenkung von Notrufen

Aktuell gibt es 52 Leitstellen in NRW mit ganz unterschiedlichen Einsatzleitsystemen, Abfragestandards und Berufsprofilen. Das bereitet häufig Probleme, nicht nur für die Disponentinnen und Disponenten, sondern auch für die Rettungsdienste und für die Menschen in Not.

Nicht selten fehlt es an Rechtssicherheit bei den Notrufabfragen, klaren Standards sowie moderner Informationstechnologie, die den schnellen digitalen Austausch von Gesundheits- und Einsatzdaten zwischen Leitstellen, Rettungs- und anderen Notdiensten sowie Krankenhäusern zulässt. Von einem Gesamtüberblick in Echtzeit über das Einsatzgeschehen in der Kommune – oder darüber hinaus – sind Leitstellen oft weit entfernt.

Leitstellen brauchen zukünftig verlässliche Prozesse bei der Notrufabfrage sowie ausreichend qualifiziertes Leitstellenpersonal, eine moderne Infrastruktur und nicht zuletzt eine verlässliche Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren im Versorgungssystem. Nur so kann Hilfe zeitnah und zielgerichtet erfolgen.   

Der Rettungsdienst als "Transportunternehmen" ist nicht mehr haltbar 

Der moderne Rettungsdienst gilt seit seiner Entstehung in den 1970er Jahren als Transportdienst und wird auch heute noch rechtlich so behandelt. Die technisch hochentwickelten Rettungswagen und die notfallmedizinische Versorgung am Einsatzort, die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter täglich leisten, werden in dieser Regelung weder mitgedacht noch finanziell honoriert. Die Folge? Einsätze werden den Rettungsdiensten in aller Regel nur bezahlt, wenn eine Einlieferung des Patienten in ein Krankenhaus erfolgt. Dieser groteske Umstand führt in der Praxis zu erhöhten Einweisungen in die ohnehin häufig überlasteten Notaufnahmen der Krankenhäuser. 

Der Rettungsdienst sollte in Zukunft als ambulante Versorgung anerkannt und als solche den Rettungsdiensten vergütet werden. Was in manchen Kommunen bereits möglich ist, muss flächendeckend Einzug halten. Und zwar zum Wohle der Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit und zur Entlastung der klinischen Notaufnahmen.

Bedarfsgerechtigkeit durch mehr Einsatzoptionen erhöhen

Der Rettungsdienst leidet unter sehr hohen und weiter steigenden Einsatzzahlen. Er wird unter anderem auch deshalb so häufig alarmiert, weil im System keine ausreichenden Optionen zur Verfügung stehen. Für leichte bis mittelschwere Verletzungen sind die „rollenden Intensivstationen“ – wie ein Experte den Rettungswagen im Interview bezeichnet – zu hochgerüstet - der Krankentransportwagen wiederum führt nicht genug Mittel an Bord, um die nötige ambulante Versorgung vor Ort zu gewährleisten.

Es fehlt also die goldene Mitte. Dabei wurde diese schon gefunden und zum Einsatz gebracht: ein Krankentransportwagen für Notfälle (N-KTW). Der Notfall-KTW ist für Einsätze konzipiert, die dringend, aber nicht lebenskritisch sind. Das neue Einsatzfahrzeug kommt mit berufserfahrenen Rettungssanitätern (mind. 1 Jahr Berufserfahrung) und damit ohne Notfallsanitäter-Kompetenz aus und führt weniger Medizintechnik und Medikamente mit sich. 

Die Erfahrungen aus der Praxis, wo er schon eingesetzt wird, zeigen: Er nimmt Last vom System, wenn alle Beteiligten – vom Träger, über die Leitstelle bis zum Rettungsdienst – dem Konzept vertrauen. Die Expertinnen und Experten fordern in dem Zusammenhang die flächendeckende Einführung des Notfall-KTW, der bislang nur als Insellösung in manchen Kommunen in NRW etabliert ist.

System aus Rettungsdienst und Katastrophenschutz: Mehr Wertschätzung für offensichtliche Vorteile der anerkannten Hilfsorganisationen 

Unsere tägliche Arbeit im Rettungsdienst und unser Engagement im Katastrophenschutz der Johanniter sind wie zwei Räder, die ineinander greifen, um Leben zu retten und Menschen in Not konkret zu helfen: Bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn ist der örtliche Rettungsdienst alleine verständlicherweise überfordert - nur gemeinsam mit dem Katastrophenschutz können so viele Menschen betreut und Verletzte medizinisch versorgt werden. Ein gut funktionierendes System aus Rettungsdienst und Katastrophenschutz ist daher elementar für die hohe Leistungsfähigkeit unseres Rettungsdiensts.

Deswegen fordern wir Johanniter gemeinsam mit dem Arbeiter-Samariter-Bund, dem Deutschen Roten Kreuz und dem Malteser Hilfsdienst die Neugestaltung des Rettungsgesetzes, oder konkret: von Paragraph 13 des Rettungsgesetzes NRW. Wichtiges Ziel muss dabei sein, den anerkannten, gemeinnützigen Hilfsorganisationen tatsächlich das Vorrecht bei Rettungsdienst-Vergaben zu ermöglichen, das ihnen versprochen wird: Für unseren Katastrophenschutz, für unser soziales Engagement.

Unsere Forderung greift außerdem einen Aspekt der Koalitionsvereinbarung von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Bildung einer Landesregierung in Nordrhein-Westfalen auf. In der Vereinbarung von Juni 2022 heißt es: „Wir werden den Rettungsdienst weiterentwickeln, um die Gesundheitsversorgung der Menschen in Nordrhein-Westfalen weiter zu verbessern und die Zusammenarbeit mit der Notfallversorgung zu stärken." 

Johanniter, ABS, DRK und MHD fordern daher die Politik in NRW auf, bei der Erneuerung des Rettungsgesetzes NRW das gegebene Versprechen in die Tat umzusetzen, Paragraph 13 nachzuschärfen und unmissverständlich das Vorrecht der Hilfsorganisationen auf Rettungsdienst-Beteiligung festzuschreiben. Unsere Kollege Ralf Bischoni von den Maltesern zu unserer Forderung:

Einheitliche Qualitätsstandards für den Rettungsdienst von Morgen

Notfallversorgung ist "föderal organisiert" und damit eine komplexe Angelegenheit. Klar gesagt: Es existieren politische Zuständigkeiten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Die Landesregierung gibt zwar durch das Rettungsgesetz NRW den Rahmen vor und die fünf Bezirksregierungen üben die Rechts- und Fachaufsicht aus. Dennoch haben in der Umsetzung die 22 kreisfreien Städte und 31 Kreise, 32 Berufsfeuerwehren und 66 Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst in NRW das Sagen.

Weil Abstimmungsprozesse äußerst anspruchsvoll sind und viel Zeit kosten, führt das oft genug dazu, dass die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Bei der Bedarfsplanung im Rettungsdienst ist bedauerlicherweise genau das die Regel.

Was im Krankenhaussektor auf Bundes- und Landesebene bereits fortgeschritten ist, steht im Rettungsdienst daher noch ganz am Anfang: Ein Austausch über Qualitätsstandards mit dem Ziel verbindlicher Absprachen. Dies betrifft nicht nur die Einsatzbefugnisse von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern und digitale Infrastrukturen in den Leitstellen, sondern sämtliche Rettungsmittel und Infrastrukturmaßnahmen (Fahrzeuge, Medizintechnik, Gebäude, etc.) bis hin zu Personalangelegenheiten (Fortbildungen, Dienstplanregelungen, etc.).

Damit ist auch das Thema Datenzugriff und Austausch von allen verfügbaren Einsatz- und Gesundheitsdaten zur bestmöglichen Notfallsteuerung angesprochen.  Nur mit einer verlässlichen Datengrundlage lassen sich hier Unterschiede erkennen und Verbesserungen in der Notfallversorgung effektiv umsetzen.

Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung stärken

Notfälle geschehen an den unterschiedlichsten Orten und häufig sind Laien noch vor dem Rettungsdienst bei dem oder den verletzten oder erkrankten Menschen. Liegt eine akute lebensbedrohliche Lage vor, entscheiden häufig Minuten über die Chancen des Überlebens und den Grad der anschließenden Genesung oder Folgeschäden. Hier kann eine gelungene Erste-Hilfe einen riesigen Unterschied machen. 

Leider steht es nicht gut um die Erste-Hilfe-Fähigkeiten in der Bevölkerung: Laut einer repräsentativen Befragung der Techniker Krankenkasse liegt der letzte Erste-Hilfe-Kurs bei jedem oder jeder Vierten (26%) mehr als 20 Jahre zurück, bei den über 60-Jährigen ist es sogar jede/r Zweite (52%). Eine von der AOK in Auftrag gegebene Befragung ergab zudem, dass zwei Drittel (64%) Probleme mit der Verarbeitung gesundheitsbezogener Informationen haben (sog. Gesundheitskompetenz, Tendenz weiter abnehmend), während sogar 80% angaben, sich nur schwer im deutschen Gesundheitssystem zurecht zu finden.

Dabei können Bürgerinnen und Bürger sich mittlerweile sogar zu "First Respondern" - einer vertieften Erste-Hilfe-Ausbildung mit direkter Einsatzverantwortung vor Ort - ausbilden lassen. Die Idee dahinter: Notfallversorgung als gesamtgesellschaftlichen Auftrag zu verstehen und hierzu den unmittelbaren Sozialraum der Menschen mit einzubeziehen. Eine hohe Gesundheitskompetenz sowie das lokale Engagement aktiver Bürgerinnen und Bürger können die Erstversorgung verbessern und zugleich in nicht-lebenskritischen Notfallsituationen dazu beitragen, das Last vom System der Notfallversorgung genommen wird.  

Durch breite Aufklärung, regelmäßiges Auffrischen von Erste-Hilfe-Kursen und neuen Rollen wie die des „First Responders“ sollen die Menschen lernen, sich in Notsituationen in Zukunft selbst besser zu versorgen.

Berufsjahre im Rettungsdienst durch bessere Arbeitsbedingungen und Resilienzförderung erhöhen

Die Zeit, die eine Rettungskraft seinen Dienst leistet, liegt in Deutschland bei durchschnittlich sieben bis zehn Jahren. Auch die erwartete Verweildauer bei Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern in Ausbildung bestätigt dies: Laut einer im Jahr 2019/2020 veröffentlichten Studie planen knapp 50 Prozent der Auszubildenden nicht länger als zehn Jahre im Rettungsdienst tätig zu sein. 

Angesichts der steigenden Einsatzlast sowie des demographisch bedingten Fachkräftemangels ist eine längere Verweildauer im Rettungsdienst ein wichtiges Ziel des Reformprozesses: Blieben Rettungskräfte durchschnittlich fünf Jahre länger im Dienst, würde das dem Fachkräftemangel einiges an Wucht nehmen und für alle aktiven Rettungskräfte eine Entlastung bedeuten. 

Ein zentraler Hebel für längere Dienstzeiten sind bessere Arbeitsbedingungen im Rettungsdienst: Wartezeiten zwischen Einsätzen können angenehmer gestaltet werden, wenn die Räumlichkeiten der Wachen ausreichend Platz und Möglichkeiten zur Entspannung bieten. Auch gesundheitsfördernde Angebote wie Fitnessgeräte und betriebliches Gesundheitsmanagement können hier einen wertvollen Beitrag leisten. Hinzu kommen Schutzkonzepte und Nachsorge bei belastenden Einsätzen, die konsequente Disponierung nicht-lebenskritischer Fälle an passende Versorgungsangebote zur Vermeidung von Unterforderung, eine Harmonisierung der Einsatzbefugnisse für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter und damit mehr Rechtssicherheit, neueste Einsatztechnik (z.B. hydraulische Tragen) zur körperlichen Entlastung der Einsatzkräfte und einiges mehr. 

Die Arbeitsbedingungen müssen zukünftig noch stärker darauf ausgerichtet werden, die Widerstandsfähigkeit bzw. "Resilienz" der Rettungskräfte zu verbessern. Dafür braucht es auch ein durch Hospitation und Supervision unterstützes, besseres Verständnis und echte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Berufsgruppen der Notfallrettung.