Johanniter - Ausgabe 4/2024 - Pflege
Pflege: Ein neues Zuhause
Es muss nicht gleich das Pflegeheim sein. Altersgerechtes Wohnen kann auch unkonventionell gestaltet werden. Mit Unterstützung der Johanniter zeigt die selbstbestimmte Senioren Wohngemeinschaft in Didderse, wie es geht.
Wie möchte man leben im Alter? Jolanta Lakota hat sich darüber schon viele Gedanken gemacht. Mit alternativen Wohnformen beschäftigt sich die 44-jährige Pflegefachkraft seit langem. Aus der schieren Notwendigkeit, ihren eigenen Großvater gut versorgt zu wissen, eine eigene Senioren-WG von Grund auf aufzubauen? Das bezeichnet sie heute als „eine Schnapsidee, beim Wein entstanden“.
Selber machen
Mit viel Mut haben Jolanta Lakota und ihr Mann Matthias ein passendes Grundstück gesucht und erworben, eine Gemeinde gefunden, die ihr Konzept unterstützt, damit ältere Menschen selbstbestimmt zusammenleben können und sich wohlfühlen. Von den ganzen zu erfüllenden gesetzlichen Anforderungen, der Finanzierung und der Bauphase ganz zu schweigen. Seit fünf Jahren gibt es nun ihr Haus in Didderse, zwischen Wolfsburg und Hannover.
Für ein Dutzend Menschen, die nicht mehr allein in ihren vier Wänden zurechtkommen, aber auch nicht in ein Pflegeheim wollen, sondern die Gemeinschaft, das Miteinander bei Tisch, das Zeitunglesen und auch Diskutieren lieben. Selbst wenn das Kurzzeitgedächtnis mal versagt oder die Beine nicht mehr ganz so flink sind wie früher. Hier gibt es keine Anonymität, gleichwohl Privatsphäre für jeden, der sich in sein Zimmer zurückziehen will, hier kennen sich Bewohnerinnen und Bewohner, Angehörige und Pflegepersonal sehr persönlich und auch die Dorfgemeinschaft grüßt beim Gassigehen am Feldrand freundlich über den Gartenzaun.
Die WG hat das letzte Wort / Reinhold Schweda, der Großvater der Lakotas, zog 2019 als erster Bewohner in die WG. Die restlichen Plätze waren schnell belegt. Heute ist die Jüngste 80 Jahre alt, der Älteste 95. Pflegegrad 2 müssen sie mindestens haben, um hier aufgenommen werden zu können. „Und gemeinschaftsfähig müssen sie sein, damit die WG für alle funktioniert“, sagt Jolanta Lakota. Wer einen Platz sucht, muss sich den anderen vorstellen, die WG entscheidet gemeinsam, wer zu ihr passt und einziehen darf, wenn ein Platz frei wird.
Zum Beispiel Anni Mundil, in ihrem Berufsleben eine Putzmacherin. Die 90-Jährige kam im Juli 2023 hierher. „Für mich ist die Gemeinschaft das Schönste“, sagt sie bei Kaffee und Kuchen in der großen Runde, „das ist wie Familie.“ Verschmitzt schaut sie auf ihre Tochter Angelika, die häufig zu Besuch kommt. Und alle anderen am Tisch nicken oder kommentieren zu stimmend. So ein Schnack beim Frühstück oder zwischendrin im Gemeinschaftsraum ist viel wert. Oder sich an kleinen Aufgaben beteiligen, die anfallen, beispielsweise Wäsche legen oder den Tisch decken. Nicht einsam in einem Zimmer sitzen, sondern mit anderen zusammen sein. „Und wenn es zu viel wird, dann gehe ich einfach in mein Zimmer.“
Warten lohnt sich
Tochter Angelika wirkt erleichtert, ihre Mutter so gut ver- und umsorgt zu wissen. „Ich muss nicht mehr 24 Stunden anwesend sein, die nervliche Anspannung der häuslichen Pflege ist weg. Ein Dreivierteljahr hat es zwar gedauert, bis ein Platz frei war. Aber das Warten hat sich gelohnt. Ein Sechser im Lotto nach all den Strapazen zu Hause.“ Sie kann jederzeit hier nach ihrer Mutter schauen. So auch Claudia Kaiser, die Tochter von Heinz Pavel, dem mit 95 Jahren derzeit ältesten WG-Mitbewohner. Dabei sei es ihm vor dem Einzug schon etwas mulmig gewesen. Inzwischen ist er aber sichtlich aufgeblüht: Jeden Tag mit dem Rollator ein Spaziergang an der frischen Luft, zweimal wöchentlich Sport, das Rumflachsen mit den anderen über den Jolanta Lakota ist mit dabei, wenn es bei der Gymnastikstunde „Bewegung von Kopf bis Fuß“ altersgemäß sportlich zugeht. Tisch hinweg. Inzwischen fühlt er sich pudelwohl.
Gemerkt habe sie es, als er bei einem Spaziergang sagte: „Ich gehe jetzt zurück in mein Zuhause.“ Sie ist dankbar und genießt die Entlastung, nachdem sie über zehn Jahre hinweg persönlich für die Pflege ihres Vaters da war. Und sie weiß ihren Vater in guten Händen. Denn vor Ort arbeitet ein Team der Johanniter aus dem Ortsverband Celle, das sich rund um die Uhr den Bedürfnissen aller zwölf aus der WG widmen kann. Insgesamt 13 Mitarbeitende gehören zum Kernteam des ambulanten Pflegedienstes. Ob Essensvorbereitung oder Tablettenzuteilung, Unterstützung bei Alltagsbeschwerden, Wäschewaschen bis hin zu den nötigen Reinigungsarbeiten: freundlich, zugewandt, es ist kaum Stress, sondern viel Ruhe und Geduld zu beobachten. Wer von den Seniorinnen und Senioren kann, beteiligt sich an kleineren Aufgaben, legt auch mal die frisch gewaschenen Putzlappen zusammen, hilft beim Kartoffelschälen oder Broteschmieren. Die Bewohner haben laut WG-Satzung ein Mitsprache recht, welche gemeinsamen Anschaffungen gemacht werden, ob eine Waschmaschine oder eine Fahrradrikscha.
Oder welcher Pflegedienst sie betreut: Auf die Johanniter, die seit zirka einem Jahr die ambulante Pflege leisten, konnten sie sich demokratisch einigen. In Kooperation mit den Johannitern ist auch noch die Diakonie mit einigen Leistungen der Behandlungspflege involviert. „Der letzte Lebensabschnitt bringt ja häufig Unvorhergesehenes“, sagt Jolanta Lakota, die in ihrem eigenen Haus jetzt auch als Teamleiterin für die Johanniter arbeitet. „Hier darf jeder, sofern nichts dagegensteht, bis zum letzten Atemzug bleiben.“
Für die Angehörigen gibt es eine gewählte Sprecherin. Das ist derzeit Stefanie Kuchmetzki, die aus eigener Erfahrung mit ihrer Mutter Helga Amkreutz weiß, dass sich das eigene Leben mit der Pflege in der Familie nicht mehr unter einen Hut bringen lässt. Sie hätte gerne weiter für ihre Mutter gesorgt, „aber ich konnte diese große Verantwortung nicht mehr übernehmen. Irgendwann wurde es zu viel“, sagt sie. Ein Flugblatt im eigenen Briefkasten, das für die WG warb, kam zum rechten Zeitpunkt. Und: „Ich bin wirklich sehr dankbar, dass wir dieses Haus gefunden haben“, sagt die 49-jährige Buchhalterin, die deshalb auch gerne als Schnittstelle zwischen WG-Leitung, Pflegedienst und Diakonie sowie den Angehörigen vermittelt.
Ich bin wirklich sehr dankbar, dass wir dieses Haus gefunden haben.
Eine eingeschworene Gemeinschaft
Und es funktioniert: Die Bewohnerinnen und Bewohner wirken wie eine eingeschworene Gemeinschaft. Dafür sind sie gemeinsam verantwortlich, ebenso für ihre Freiräume, die sie sich gegenseitig zugestehen. Und wenn die selbst schon 76 Jahre alte Monika Achilles zweimal die Woche gutgelaunt und sehr motivierend als Trainerin für die Gymnastikstunde „Bewegung von Kopf bis Fuß“ vorbeikommt, dann läuft ihr Publikum zu Hochform auf: Sie werfen sich Bälle und farbige Seidentücher zu, kreisen mit Händen, Armen und Füßen oder bilden erstaunliche Wörter aus Buchstaben, die ein großer Schaumstoffwürfel anzeigt. Etwas mit „K“ und „M“ ist gefragt. „Mäusespeck“ oder „Imker“ kommt es wie aus der Pistole geschossen aus der Runde. Ebenso die Liedzeilen, die zu ergänzen sind. Mit der Motorik und dem Gedächtnis klappt es also noch in Didderse - und die WG als Wohnform auch. / Ina Krauß