Interview
Die Bundesvorstände Thomas Mähnert und Christian Meyer-Landrut erläutern im Gespräch, wie sich die Johanniter-Unfall-Hilfe kontinuierlich ausrichten muss, um ihren Kurs zu halten.
Sie sind seit vielen Jahren für die Johanniter-Unfall Hilfe tätig und kennen die Johanniter in all ihren Facetten. Gibt es trotzdem noch Überraschungen für Sie?
Thomas Mähnert: Stimmt, in den über 30 Jahren bei der JUH habe ich Vieles gesehen und erlebt. Dabei ist jeder Tag neu und anders: Die Johanniter-Unfall-Hilfe ist dynamisch und wächst stark. Wir sind ständig in Bewegung, erfinden uns stetig neu und sind dadurch stark und erfolgreich. Diese permanente Veränderung gut zu begleiten und zu steuern ist herausfordernd, macht aber auch viel Spaß. Bei allen unseren Mitarbeitenden bin ich immer wieder begeistert davon, mit welcher Freude und Tatkraft sie ihren Aufgaben nachgehen. Dass sich mehr als die Hälfte von ihnen ehrenamtlich engagiert, erfüllt mich mit besonderer Dankbarkeit. Die vielen Hochwasser im Jahr 2024 waren ein eindrückliches Beispiel: Nicht nur in Bayern und Baden-Württemberg, sondern auch in Niederösterreich waren die Helfenden vor Ort und konnten dringend benötigte Gerätschaften wie Bautrockner verteilen und so die Menschen vor Ort unterstützen. Außerdem freue ich mich, wenn ich höre und sehe, wie vielfältig die Menschen sind, die sich entscheiden für uns zu arbeiten.
An wen denken Sie da?
Thomas Mähnert: Zum Beispiel an die erfolgreiche Wirtschaftsanwältin, die zur Sozialassistentin umschult, oder an den syrischen Geflüchteten, der erst ehrenamtlich bei uns arbeitet und heute eine Ausbildung zum Rettungssanitäter macht. Unsere Mitarbeitenden bringen unterschiedliche kulturelle Hintergründe mit. Das hilft uns, mitten in die Gesellschaft zu wirken. Wir repräsentieren ihre ganze Breite.
Wie gut gelingt das? Im vergangenen Jahr haben wir erlebt, dass das demokratische Miteinander in Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Christian Meyer-Landrut: Das war keine Überraschung, aber zeigt, dass wir immer wieder unter neuen Vorzeichen arbeiten: Eine neue Regierungskoalition, neue und veränderte gesellschaftliche Herausforderungen, an die wir uns anpassen müssen. 2024 ist dafür ein gutes Beispiel. Wir müssen uns kontinuierlich ausrichten, um unseren Kurs zu halten.
Können Sie das genauer erklären?
Christian Meyer-Landrut: 2024 war ein weiteres Jahr der Multi-Krisen: Die Kriege in der Ukraine und Nahost dauern an, viele andere Krisenregionen in der Welt befinden sich in prekärer humanitärer Lage, wir spüren die Auswirkungen des Klimawandels auch hierzulande immer öfter und unser demokratisches Miteinander ist gefährdet, durch das Erstarken rechtsextremer Positionen in der
Bevölkerung.
Wie reagieren Sie darauf?
Thomas Mähnert: Indem wir unsere Arbeit konsequent am Leitbild der Johanniter ausrichten. Es gibt uns Orientierung in einer sich schnell wandelnden Welt. Im Zentrum steht für uns immer der Mensch. Ihm wollen wir Sicherheit geben – besonders den Schutzbedürftigen: Kindern, Seniorinnen und Senioren, Pflegebedürftigen oder Geflüchteten. Aktuell beschäftigen uns verstärkt die Themen Zivilschutz und Resilienz, sowohl für uns als Organisation als auch für die Bevölkerung. In Digitalisierung und Nachhaltigkeit sehen wir große Chancen.
Was bedeutet das konkret?
Thomas Mähnert: Nehmen wir das Thema Bevölkerungsschutz: Die sicherheitspolitische Lage und der Klimawandel machen deutlich, wie verwundbar wir sind. Wir müssen uns dagegen wappnen und die Bevölkerung im Selbstschutz ertüchtigen. Beim Hochwasser in Süddeutschland 2024 ist das gelungen: Erst haben wir Katastrophenschutz geleistet, dann Nothilfe, und schließlich mit dem Aufbau von Hochwasserdepots begonnen. Bei künftigen Notlagen, die leider kommen werden, können wir den Menschen nun unmittelbar notwendige Ausrüstung und Materialien zum Selbstschutz übergeben.
Gibt es noch weitere Maßnahmen, mit denen Sie auf die veränderte Bedrohungslage reagieren?
Christian Meyer-Landrut: Ja. Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung, um Menschen im Selbstschutz zu schulen. Unsere Kurse wie "Erste Hilfe mit Selbstschutzinhalten" bieten wir zunehmend hybrid an. So passen wir unsere Bildungsangebote an den Alltag der Menschen an und erreichen mehr Teilnehmende.
Sie sagten, Resilienz sei ein Thema, das sie auch als Organisation betrifft. Was heißt das?
Thomas Mähnert: Nicht nur die Bevölkerung muss zur Selbsthilfe befähigt werden, auch wir müssen ihr einen krisenfesteren Schutz bieten. Dafür braucht es vor allen Dingen eine Stärkung des Ehrenamts, denn in Deutschland wird der Bevölkerungsschutz fast ausschließlich ehrenamtlich von Bürgerinnen und Bürgern getragen. Ohne sie würde er in seiner jetzigen Form nicht existieren. Wir bieten der Politik konkrete Lösungsvorschläge zu einer Stärkung der Strukturen im Zivil- und Katastrophenschutz an. Auf dieser Grundlage setzen wir uns, im Schulterschluss mit den führenden Hilfsorganisationen, dafür ein, dass die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Konkret beispielsweise die angemessene finanzielle Ausstattung und das Recht auf Anerkennung als Arbeitszeit für ehrenamtlich Tätige im Einsatz.
„Die sicherheitspolitische Lage und der Klimawandel machen deutlich, wie verwundbar wir sind. Wir müssen uns dagegen wappnen und die Bevölkerung im Selbstschutz ertüchtigen.“
Hat sich Ihre Positionierung gegenüber der Politik mit der neuen Koalition verändert?
Christian Meyer-Landrut: Unser sozialer Auftrag bleibt unsere Richtschnur. 2024 haben wir unsere gesellschaftspolitische Positionierung noch geschärft: zum Beispiel bei der Reform der Notfallversorgung. Sie ist dringend notwendig, um das überlastete System zu entlasten. Oder in der frühkindlichen Bildung: Als größter freigemeinnütziger Kita-Träger engagieren wir uns für Chancengerechtigkeit, etwa mit der Kampagne “Jedes Kind zählt” für ein bundesweites Kita Qualitätsgesetz.
Worum geht es Ihnen da?
Christian Meyer-Landrut: Die Politik hat den Anspruch auf eine Ganztagsbetreuung ab 2026 beschlossen. Deswegen stärken wir unsere Ressourcen in diesem Bereich. Wir möchten Kinder bestmöglich begleiten und fördern und ihre sozialen Kompetenzen trainieren. Das Thema Bildung eignet sich übrigens auch, um über die Chancen des technologischen Fortschritts zu sprechen.
„Die Digitalisierung sorgt für eine Entlastung der Pflegenden, die so wertvolle Zeit gewinnen, um sich den Menschen widmen zu können.“
Inwiefern?
Thomas Mähnert: Die Digitalisierung entlastet unsere Mitarbeitenden, etwa durch digitale Pflegedokumentation oder automatisierte Medikamentenbestellung. Auch technische Assistenzsysteme wie Aufsteh- oder Drehhilfen setzen wir ein. Beides unterstützt die Pflegenden, die so wertvolle Zeit gewinnen, um sich den Menschen widmen zu können. Und digitale Kommunikation ergänzt unsere Betreuung von Mensch zu Mensch und hilft Einsamkeit entgegenzuwirken – eines unserer wichtigsten Ziele.
Gibt es weitere Beispiele?
Thomas Mähnert: Ja, an unserer Akkon Hochschule setzen wir VR-Technologie in der Ausbildung ein, etwa, um Situationen im Rettungsdienst zu simulieren. Das gibt wichtige Hinweise, beispielsweise auf kulturelle Vorurteile: Was passiert, wenn man mit Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen umgeht, was, wenn man im Einsatz auf Kritik oder Anfeindung eingehen muss. Außerdem setzen wir intern und extern vermehrt auf digitale Lernformate und können Bildung orts- und zeitunabhängig vermitteln. Kurz, wir nutzen den technischen Fortschritt, um unsere Leistungen längerfristig zu sichern und weiterzuentwickeln. Wir haben über die vielfältigen Krisen und sicherheitspolitisch veränderte Lage gesprochen: Zumindest im gesellschaftlichen und politischen Diskurs rutscht das Thema Nachhaltigkeit dabei schnell nach hinten. Wie ist das bei den Johannitern?
Christian Meyer-Landrut: Wir sind dabei, das Thema dauerhaft in der Organisation zu verankern und konkret umzusetzen. Das ist ein langwieriger Prozess, wie beispielsweise das Vorantreiben der Umstellung unserer Flotte auf E-Mobilität. 2024 sind wir der Klimaallianz beigetreten, um gemeinsam mit anderen Organisationen das Thema Nachhaltigkeit voranzutreiben. Intern haben wir das erste Mal eine Klimabilanz erstellt und haben einen Nachhaltigkeitspreis ausgeschrieben.
Worum geht es da?
Thomas Mähnert: Nachhaltiges Handeln kann man nicht einfach von oben verordnen; wir wollen unsere Mitarbeitenden aktivieren und motivieren. Ich bin begeistert wie viele kluge Köpfe mit zukunftsweisenden Ideen wir bei den Johannitern haben.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Thomas Mähnert: Die Bandbreite der Einreichungen war enorm und reichte von elektrischen Einsatz- Motorrädern, einem Projekt für die Verwertstoffung von Hausnotrufgeräten, über eine Netzwerkgruppe „JUHnique“, die queere Menschen stärkt, bis hin zu klimafreundlichen, naturnahen Kitas. Uns ist wichtig, das Thema in allen drei Dimensionen begreifen: Sozial, ökonomisch und ökologisch. Als Johanniter sind wir der Nächstenliebe und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet.
Was bedeutet das für das kommende Jahr?
Christian Meyer-Landrut: Unser Handeln ist immer vom christlichen Menschenbild geprägt, bei dem der Einzelne im Mittelpunkt steht. Wir setzen auf klare Ziele: digitale Angebote ausbauen, verbindliche Nachhaltigkeitsmaßnahmen umsetzen und Vielfalt aktiv fördern. So gestalten wir Zukunft: verantwortungsvoll, innovativ und nah am Menschen.