Spezifischer nozizeptiver Rückenschmerz durch Dystrophie der autochthonen Rückenmuskulatur
Spezifische nozizeptive Rückenschmerzen entstehen durch eine klar erkennbare strukturelle Ursache, wie z. B. Bandscheibenvorfälle, Wirbelkörperfrakturen oder Arthrosen. In den allermeisten Fällen lassen sich bei kenntnisreicher Beurteilung zumindest ein oder mehrere Schmerzursachen feststellen, denn Schmerzen haben sehr häufig einen eindeutigen anatomischen Auslöser. Genau genommen hat fast jeder Rückenschmerz eine (oder mehrere) konkrete Ursache(n), auch wenn diese nicht immer sofort klinisch oder bildgebend nachweisbar ist.
Multifidus- und Semispinalis-Atrophie
Die tiefen autochthonen Rückenmuskeln wie Multifidus und Semispinalis stabilisieren segmental die Wirbelsäule. In den letzten Jahren wurde die Rolle der Muskulatur in der Entstehung von Rückenschmerz viel besser verstanden. Durch Inaktivität, Verletzung oder Schmerz kommt es zu einer reflektorischen Hemmung und schrittweisen Atrophie dieser Muskeln. Genauer gesagt fehlt die neuromuskuläre Kopplung des Multifidus, da die feinen Nervenfasern des ramus medialis, die die Muskelaktivierung steuern, unterbrochen werden. Die Folge ist eine eingeschränkte Fähigkeit, den Multifidus gezielt zu kontrahieren, dadurch kommt es dann letztlich zu Muskelschwund.
Durch den Muskelschwund geht die feine segmentale Stabilisierung verloren, wodurch Mikroinstabilitäten in der Wirbelsäule entstehen. Diese Instabilitäten führen zu erhöhter Belastung der Bandscheiben, Facettengelenke und Bänder. Dadurch entstehen chronische Reizzustände und nozizeptive Schmerzen im Rücken.
Eine Atrophie des Multifidus zeigt sich typischerweise in belastungsabhängigen Rückenschmerzen, die oft beim kurzem oder längeren Sitzen oder Stehen auftreten. Die fehlende muskuläre Stabilität kann zu kompensatorischer Fehlbelastung führen, wodurch Schmerzen auch in Gesäß und Bein ausstrahlen.
Die Atrophie selbst verursacht die Beinbeschwerden nicht direkt, sondern sie begünstigt durch Instabilität und Folgeüberlastungen eine Reizung der Nervenwurzeln, die die typischen ausstrahlenden Schmerzen in die Beine auslösen.
Warum macht eine Atrophie der Rückenmuskulatur Schmerzen oder Ausfallerscheinungen in den Beinen?
Eine Atrophie der autochthonen Rückenmuskulatur – vor allem des Musculus multifidus – führt nicht nur zu lokalen Rückenschmerzen tief im unteren Rücken, sondern kann auch Symptome in den Beinen verursachen. Diese Ausstrahlung entsteht durch die mechanische Irritation von Nervenstrukturen sowie durch die gestörte segmentale Kontrolle, die radikuläre Schmerzsyndrome begünstigt. Das hat mehrere Gründe:
Segmentale Instabilität: Durch den Muskelschwund fehlt die feine Stabilisierung einzelner Wirbelsegmente. Dadurch geraten Bandscheiben und Facettengelenke stärker unter Druck, was Nervenwurzeln mechanisch reizen kann.
Reflektorische Schutzspannung: Andere, oberflächlichere Muskeln übernehmen kompensatorisch die Stabilisation, was zu Fehlhaltungen, erhöhter Spannung und sekundären Irritationen der Nervenwurzeln führen kann.
Neurale Mitbeteiligung: Bei einer länger bestehenden Atrophie steigt das Risiko für kleine Bandscheibenvorfälle oder Facettengelenksarthrosen. Diese können zu radikulären Schmerzen führen, die klassisch in Gesäß, Oberschenkel oder Unterschenkel ausstrahlen.
Beckeninstabilität
Segmentale Instabilität: Der Multifidus stabilisiert einzelne Wirbelsegmente und wirkt wie eine „feinjustierende Muskulatur“. Fällt er aus, übernehmen oberflächlichere Muskeln (z. B. Erector spinae, Quadratus lumborum) die Stabilisation. Das führt häufig zu muskulären Dysbalancen. Wenn die Atrophie einseitig stärker ausgeprägt ist, entsteht eine ungleichmäßige Zugkraft auf die Lendenwirbelsäule. Dadurch kann es zu einer funktionellen Beckenschiefstellung kommen.
Hier kommt es dann zu einer „Kettenreaktion“: Eine instabile Lendenwirbelsäule beeinflusst die Statik des Beckens, was wiederum Hüft- und Beckenmuskeln (z. B. Iliopsoas, Glutealmuskeln) in ein Ungleichgewicht bringt. Hierdurch entsteht durch muskuläre Dysbalance/Instabilität eine funktionelle Beckenschiefstellung, diese ist oft reversibel. (im Gegensatz dazu: strukturelle Beckenschiefstellung → z. B. durch Beinlängendifferenz oder knöcherne Veränderungen, nicht durch Multifidus-Atrophie verursacht).
Irritation des Plexus sacralis
Eine funktionelle Beckenschiefstellung entsteht meist durch muskuläre Dysbalancen, Beinlängendifferenzen oder Haltungsmuster, nicht durch knöcherne Fehlstellungen. Dabei können Muskeln auf einer Seite verkürzt oder auf der Gegenseite abgeschwächt sein.. Durch die Dysbalancen kann es zu Druck- und Zugkräfte auf umliegende Strukturen erhöht werden. Der Plexus sacralis entspringt aus den Nervenwurzeln L4–S4 und verläuft im kleinen Becken. Eine direkte Reizung durch den Multifidus ist anatomisch eher unwahrscheinlich, da der Muskel dorsal der Wirbelsäule liegt und die Nerven anterior in Richtung Becken verlaufen. Aber durch eine Beckenschiefstellung kann die Lendenwirbelsäule und das Iliosakralgelenk asymmetrisch belastet werden. Über mechanische Zugkräfte oder Verspannungen in tiefen Rückenmuskeln und Faszien kann indirekt eine Reizung von Nervenwurzeln oder des Plexus sacralis erfolgen. Häufiger wird jedoch nicht der Plexus selbst, sondern einzelne Nervenäste (z. B. N. ischiadicus) durch muskuläre Verspannungen oder Piriformis-Syndrom irritier
Wie diagnostiziert man eine Atrophie der autochthonen Rückenmuskulatur?
Bildgebung (Goldstandard: MRT): Im MRT lassen sich Muskelschwund und Fettinfiltration sichtbar machen; Querschnittsflächen der Muskulatur können objektiv vermessen werden.
Sonografie: Ultraschalluntersuchungen können die Dicke des Multifidus in Ruhe und unter Anspannung darstellen und so Funktion und Atrophie beurteilen.
Klinische Untersuchung: Sichtbare Asymmetrien, tastbare Muskeldefizite sowie Schwäche bei der segmentalen Stabilisation (z. B. im "Prone Instability Test", „Multifidus Lifttest“) geben Hinweise.
Elektromyographie (EMG): In speziellen Fällen kann die Aktivität und Rekrutierung der tiefen Rückenmuskeln gemessen werden, um Funktionsstörungen festzustellen.
Therapiemöglichkeiten:
Der wichtigste Schritt zur Therapie ist, die Ursachen zu klären. Ursachen können sein: chronische Inaktivität, Wirbelsäulenverletzungen, Injektionen der Facettengelenke, degenerative Veränderungen oder nach Operationen. Zudem muss man andere Ursachen von Rückenschmerzen ausschließen.
1. Die wichtigste Säule der Therapie ist physiotherapeutisches Training. Manuelle Therapie & Osteopathie kann helfen, muskuläre Dysbalancen zu korrigieren und Schmerzen zu reduzieren. Die Mobilisation der Wirbelsäule unterstützt die Aktivierung des Multifidus.
Ziel ist es, den Multifidus-Muskel gezielt zu aktivieren und die Wirbelsäulenstabilität zu verbessern.
Übungsprinzipien:
Segmentale Aktivierung: bewusst kleine Bewegungen der Wirbelsäule bei stabiler Position (z. B. Wirbelsäulenlordose halten, während ein Bein angehoben wird).
Core-Stabilisation: Übung von Transversus abdominis + Multifidus zusammen.
Progression: erst isoliert, dann funktionell in Alltagsbewegungen.
Beispiele:
Vierfüßlerposition, abwechselnd Arm/Bein anheben („Bird-Dog“).
Rückenlage, Becken kippen und Wirbelsäule segmental abrollen.
Stabilisation auf instabilen Unterlagen (Gymnastikball, Wackelbrett).
Wichtig ist: Physiotherapie und Krankengymnastik kann die Schmerzen auch verschlimmern, dann sollte man damit aufhören.
2. Alltagsmodifikation. Eine Modifikation des Alltags ist wichtiger Teil der Therapie. Wenn eine häufige Schmerzursache langes Sitzen oder eine Fehlhaltung sind muss man hier ergonomisch anpassen. Zudem sollten rückenschonende Bewegungsstrategien beim Heben, Bücken oder Stehen angewendet werden.
3. Medikamentöse Unterstützung spielt hierbei kaum eine Rolle. Medikamente „reparieren den Muskel nicht“, Training ist entscheidend.
Therapie mittels restorativer Therapie
Die Stimulation mittels einer implantierbaren Neurostimulationstherapie, die gezielt die Ramus medialis-Nerven des Multifidus aktiviert, um die segmentale Stabilität der Wirbelsäule zu verbessern, kann als weiterer Schritt in der Therapie eingesetzt werden.
Sie wirkt gezielt durch elektrische Impulse, die die geschwächten oder atrophierten Multifidus-Muskelfasern kontrahieren lassen. Dadurch wird die neuromuskuläre Kopplung wiederhergestellt, die oft nach chronischen Rückenschmerzen oder Nervenverletzungen gestört ist. Die Therapie reduziert Schmerzen, verbessert die funktionelle Beweglichkeit und unterstützt die aktive Stabilisierung der Wirbelsäule.
Der Erfolg hängt von einer regelmäßigen, programmierbaren Stimulation ab, meist zweimal täglich für etwa 30 Minuten. Klinische Studien zeigen, dass viele Patienten schmerzlindernde Effekte bereits nach wenigen Wochen verspüren. Zusätzlich fördert die Stimulation Muskelhypertrophie und Kraftzuwachs des Multifidus über Monate hinweg. Patienten berichten häufig von besserer Lebensqualität und gesteigerter Alltagsaktivität. Die Therapie kann insbesondere dort wirksam sein, wo konventionelles Training allein nicht ausreicht, z. B. bei schwerer Atrophie oder chronischen Schmerzpatienten. Langfristige Ergebnisse deuten auf dauerhafte Verbesserungen der Wirbelsäulenstabilität und Reduktion von Rückenschmerzepisoden hin.
Wir wenden diese Therapie seit mehreren Jahren an und haben damit durchgreifende Erfolge erzielt.