Flucht vor dem Verfall
Berlin / Medellín, 20. Dezember 2018
Mindestens eine Million Menschen haben Venezuela in den vergangenen Monaten in Richtung Kolumbien verlassen. Sie fliehen vor Hunger, Hyperinflation und wirtschaftlichem Niedergang, der das erdölreiche Land seit Jahren im Griff hat. Sergio Lacruz hat im Juni 2018 in der kolumbianischen Stadt Medellín Zuflucht gesucht. Dort unterstützen die Johanniter gestrandete Migranten aus Venezuela und intern vertriebene Kolumbianer gleichermaßen.
Der Rahmen ist gebrochen, die Gläser zerkratzt. Sergio Lacruz richtet die schief sitzende Brille immer wieder auf seiner Nase aus. Zwecklos. Er nimmt sie ab und legt sie mit stoischer Ruhe beiseite. „Ich habe in Venezuela als Anwalt gearbeitet“, erzählt der 56-Jährige ruhig und mit bedachten Worten. „Dann musste die Kanzlei von 16 auf vier Anwälte reduziert werden. Ich blieb im Team. Kurz danach musste die Kanzlei schließen. Ich habe kein Geld mehr verdient, um meine Familie über Wasser halten zu können.“ Als seine Mutter starb, habe er sich entschlossen, mit seinem Sohn nach Kolumbien auszuwandern.
Die Frau von Sergio ist Kolumbianerin. Deshalb war das Nachbarland für ihn die erste Option. Sie kam selbst vor 34 Jahren nach Venezuela, um den Problemen im eigenen Land zu entfliehen. Millionen Kolumbianer haben über Jahrzehnte in Venezuela eine neue Heimat gefunden, nachdem sie vor Drohungen und Gewalt durch bewaffnete Gruppen geflohen waren. Wohnviertel wie die Comuna 8 standen viele Jahre für ausufernde Gewalt und waren unter der Kontrolle bewaffneter Banden. Teils bis heute. Sergio sagt, dass seine Frau auf keinen Fall nach Medellín zurückkehren wolle, wo noch Familienmitglieder leben. Sie blieb in Venezuela. „Hier bin ich nun, aber Unterstützung erhalte ich von der Familie nicht“, konstatiert Sergio. Die Hintergründe behält er für sich.
Leben in einer Kammer
In der Comuna 8 am Osthang Medellíns lebt er mit seinem Sohn auf weniger als vier Quadratmetern. Auf der einen Hälfte des Raumes stehen sein Bett und das seines Sohnes übereinander. Daneben eine kleine Kochecke, hinter der Tür ein in die Wand geschlagenes Loch mit einem WC darin. In der fensterlosen Kammer kann nur eine Person stehen. Rund 20 Euro muss er monatlich dafür bezahlen, mehr geht nicht. Um sich etwas Geld zu verdienen, verkauft Sergio entweder Bonbons im Stadtzentrum oder hilft bei der Stadtteilvertretung aus.
Der Leiter der Stadtteilvertretung ist Antonio. Er ist die treibende Kraft und bemüht sich Tag und Nacht, die vielen Probleme im Viertel zu lösen. Diese reichen von Prostitution über Bandendelikte bis hin zu Drogenkonsum. Der Sitz der Vertretung gleicht einem Ameisenhaufen. Im Keller nähen Frauen Blusen und Uniformen für Schulen, andere erlernen den Beruf als Näherin. Eine Etage darüber bastelt eine Gruppe älterer Menschen Schmuck. In der ersten Etage finden Gesundheitsdienste statt. Diese werden regelmäßig im Rahmen eines humanitären Hilfsprojekts der Johanniter zusammen mit der Stiftung Las Golondrinas durchgeführt.
Psychosoziale Beratung auch für Venezolaner
Bei diesen Einsätzen arbeiten an zwei Tagen bis zu vier Ärzte, zwei Psychologen und Ernährungsberater. Sie behandeln pro Tag rund 200 Patienten. „Neben der eingesessenen Bevölkerung kommen immer häufiger Venezolaner zu den Einsätzen“, erzählt Antonio, der von Etage zu Etage springt, um alle Aktivitäten am Laufen zu halten. „Mittlerweile haben wir auch spezielle Tage nur für die zahlreichen Venezolaner eingeplant, die sich hier niedergelassen haben.“ Neben Hilfsgütern und einer Grundausstattung wie Matratzen und Kochgeschirr sieht das Projekt psychosoziale Beratung vor. „Wir hatten bereits Fälle von versuchtem Suizid“, so Antonio. „Durch das Angebot können wir versuchen, die Menschen zu unterstützen und aus der Krise zu führen.“
Auch Sergio und seinem autistischen Sohn Alberto stehen die Gesundheitsdienste zur Verfügung. Was er jedoch benötigt, ist ein Termin bei einem Neurologen, um seinen Sohn gründlich untersuchen lassen zu können. Mit Hilfe von Antonio hat er die Aussicht, bald eine Gesundheitskarte trotz fehlender Papiere zu bekommen. „Das ist mein allererstes Ziel. Danach möchte ich ein Visum beantragen, um legal und mit korrekten Papieren hier leben zu können“, sagt Sergio. Wenn er das bis Januar nicht schafft, muss er mit seinem Sohn zurück nach Venezuela, um dort den abgelaufenen Einreisestempel zu erneuern. Das bedeutet enorme Strapazen, viel Geld und keine Gewissheit, wieder zurückzukommen. Das will er aber auf jeden Fall. Trotz der widrigen Umstände hat er in der Comuna 8 ein neues Zuhause gefunden und Menschen, die ihn unterstützen und willkommen heißen.
Die Projektaktivitäten werden finanziell vom Auswärtigen Amt und Spenden unterstützt.